Heinrich
von
Kleist
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Heinrich von Kleist
Der große deutsche Dichter ...
Heinrich von Kleist (eigentlich: Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist) wurde nach eigenen Angaben am 10. Oktober 1777 *), laut Kirchenbucheintrag am 18. Oktober 1777, in Frankfurt an der Oder (Brandenburg, Preußen) geboren. Sein Leben endete am 21. November 1811in Berlin (am Stolper Loch, heute: Kleiner Wannsee; siehe weiter unten ...). Er wurde 34 Jahre alt.
*) In einem Brief (aus Würzburg) vom 10./11. Oktober 1800 schrieb Heinrich an Wilhelmine von Zenge **) : "Liebe Wilhelmine! Du denkst gewiß heute an mich, so wie ich den ganzen 18. August an Dich dachte, nicht wahr? - O mit welcher Innigkeit denke ich jetzt auch an Dich! Und welch ein unbeschreiblicher Genuß ist mir diese Überzeugung, daß unsere Gedanken sich gewiß jetzt in diesem Augenblicke begegnen! Ja, mein Geburtstag ist heute (Unterstrich, d.V.), und mir ist, als hörte ich die Wünsche, die heute Dein Herz heimlich für mich bildet, als fühlte ich den Druck Deiner Hand, der mir alle diese Wünsche mit einemmale mitteilt. Ja sie werden erfüllt werden alle diese Wünsche, sei davon überzeugt, ich bin es. (...)"
**) Wilhelmine von Zenge (20. August 1780 - 25. April 1852), nach ihrer Heirat dann: Charlotte Wilhelmine Krug, war von 1800 bis 1802 inoffiziell mit dem Dichter Heinrich von Kleist verlobt. Wilhelmine hatte in Frankfurt / Oder im Haus am Nonnenwinkel 543, in Nachbarschaft zu jenem der Familie von Kleist, gelebt. Die Beziehung Kleists mit Wilhelmine hielt aber nicht an, was in erster Linie Kleist zuzuschreiben ist. Nicht nur seine Ansichten, auch seine (geistigen) Anforderungen an sie (z.B. Belehrung in Aufgabenform in den Briefen, Schilderungen über seine immer wieder desolaten Zustände) sowie die lange Abwesenheiten Heinrichs dürften kontraproduktiv gewirkt haben. Wer Kleists Briefe an Wilhelmine von Zenge liest, wird unschwer feststellen: "Kleist bringt in seinen Briefen an Wilhelmine von Zenge eine pädagogische Leidenschaft ans Licht, die er später als Schriftsteller nicht aufgeben wird. Ein Wille zur Erziehung bleibt bestehen, nur der Unterrichtsstoff wird verschlüsselt oder ausgehöhlt. (...) Als Schriftsteller richtet er sich später an ein breiteres, anonymes Publikum, dem er ein Wissen ganz besonderer Art vermitteln will : Das Wissen, dass die Welt eine Welt tückischer Zeichen ist, ein Netz von Wörtern [László F. Földény, Heinrich Kleist im Netz der der Wörter, München, Matthes & Seitz, 1999], die nach Ausdeutung rufen, und die gleichzeitig eine eindeutige Interpretation verweigern. So wie Wilhelmine, aber auch und vor allem anders als sie bekommen sowohl Kleists Figuren als auch seine Leser ihre Hausaufgaben : Alle, Figuren und Leser, haben eine Prüfung, eine Art Zerreißprobe zu bestehen, indem sie sich der radikalen Unentscheidbarkeit aller Fragen stellen." (Stefania Sbarra, Kleist oder die Sabotage des Erhabenen, in: Études Germaniques 2012/1 (n° 265), Seiten 43 - 56)
Immer häufiger mußte Wilhelmine demzufolge sich auch fragen, ob sie noch seine Braut war, ob er mit ihr gänzlich gebrochen hatte oder "nur" schmollte und grollte, vielleicht endgültig und verzweifelt in seine eigene Welt abgetaucht war. Als Kleist nun schon mehr als ein ganzes Jahr in Paris weilte, starb Wilhelmines Bruder Karl, mit dem sie eine große Liebe verbunden hatte, sie fiel auch deshalb in ein seelisches Tief und schrieb Kleist, er müsse sich jetzt mit dem wirklichen Leben befreunden und zurückkommen; sie hänge sehr an ihm und sie bedürfe mehr denn je seines Trostes gerade zu dieser Zeit. Kleist schickte den Brief zurück, mit einigen wenigen Zeilen als Anmerkung: er kehre nicht zurück, er sei gegenwärtig arm, wolle sich von der Schriftstellerei ernähren und könne ihr nichts mehr bieten. Also das Ende der Verlobung, der Beziehung und sicherlich auch von ihrem Mädchentraum ... Aber Wilhelmines Zustand besserte sich dennoch wieder, wahrscheinlich auch ihrem Naturell und ihrer sozialen Vernetzung zu verdanken.
Wilhelmine Zenge lernte dann Wilhelm Traugott Krug (1770-1842), der 1801 als außerordentlicher Professor nach Frankfurt/Oder gekommen war, im Hause Ahlemanns kennen, 1803 verlobten sie sich und heirateten am 08.01.1804 in der Marienkirche. 1805 wurde Krug dann -- ihr Ehemann, war nicht irgendwer -- zum Nachfolger Immanuel Kants auf den Lehrstuhl für Philosophie in Königsberg berufen und die Familie zog dorthin um. 1805 wurde auch deren ältester Sohn August Otto geboren.
Es kam übrigens auch noch zu einer Wiederbegegnung zwischen Wilhelmine und Heinrich von Kleist: im Jahr 1806. (Kleist hatte nämlich eine bescheidene Anstellung als preußischer Finanzbeamter In Königsberg bekommen.)
Als Heinrich von Kleist 1808 sein hervorragendes, vor allem schönes Gedicht "Die beiden Tauben, eine Fabel von Lafontaine" veröffentlichte, bemerkte Professor Krug (sarkastisch?) gegenüber seiner Frau Wilhelmine "Sieh, da hat dir dein Freund noch etwas gesungen!" Krug hatte wohl recht, wahrscheinlich war Kleist schmerzlich bewußt geworden, was er in diesem Gedicht ausgedrückt hatte, nämlich daß seine endgültige Trennung von Wilhelmine, eben die Auflösung der Verlobung seinerzeit, zugleich der Verzicht auf (nicht nur diese) Liebe wohl auch dauerhaft der Preis sein würde für seine Entscheidung, ein Dichter zu sein, zu werden.
Kleist verließ, für ihn ja nicht untypisch, die Gesellschaft von Königsberg recht plötzlich wieder, so als konnte er den relativen Frieden dort nicht ertragen. Ihn hatte eine für ihn offensichtlich typische Ruhelosigkeit wieder überfallen. Dabei war er dort eigentlich recht freundlich und tolerant behandelt worden -- er wurde sogar im Krugschen Hause herzlich aufgenommen, durfte da häufig seine Zeit als gern gesehener Gast verbringen, dort konnte er sich aussprechen, fand immer wieder auch Trost, wenn er (mit sich selbst und der Welt) haderte oder gar etwas kleinmütig geriet; auch die frühere Verlobte erwies sich als eine wirkliche Freundin, wie auch ganz besonders ihre Schwester Louise (sie war mit den Krugs seinerzeit ebenfalls nach Königsberg gezogen). Beide Frauen versuchten ihn auch immer wieder auf eine angenehme Art zu beruhigen , wenn sein Ehrgeiz übergroß zu wogen begann. Aber Heinrich von Kleist schien mit derartiger famliärer Idylle einfach seine Schwierigkeiten gehabt zu haben. Heinrich und Wilhelmine verloren sich nun gänzlich (von einer kurzen späteren Begegnung in Frankfurt einmal abgesehen) aus den Augen.
Wilhelmine hörte von Kleist also lange, lange Zeit nichts mehr, erst wieder durch seinen Tod: "Eines Tages, Ende November 1811, brachte Professor Krug seiner Gattin ein Zeitungsblatt. Ein Blick auf die von ihm bezeichnete Stelle, und sie erstarrte. Sie las, daß Heinrich von Kleist sich mit der gemüthskranken Gattin eines Berliner Beamten am Wannsee im Grunewald erschossen hatte. Als Leben in sie zurückgekehrt, flog sie an die Brust ihres Mannes und weinte da lange und heftig. Er verstand die Thränen, die sie einem Unglücklichen weihte, der doch ein echter Dichter gewesen war und mit seinen Masterwerken „Der Prinz von Homburg“, „Der zerbrochene Krug“, „Das Käthchen von Heilbronn“, „Penthesilea“ u. a. sich die Unsterblichkeit geschaffen hatte." ( Schmidt-Weißenfels, Die Braut Heinrichs von Kleist. wikisource.org)
"Wie kann ein Dichter ohne das Vorbild Heinrich von Kleists dies
schmutzige Meer der menschlichen Gesellschaft durchwaten?"
Georg Kaiser, 1927
Es hat immer wieder Versuche gegeben, Kleist als Person in retrospektiv-fiktiver Weise "auferstehen" zu lassen. Über den Sinn derartiger Versuche mag man füglich streiten. Meistens wirken derartige Unternehmungen eher peinlich und dilettantisch. Als ein Beispiel hierfür sei -- natürlich aus meiner sicherlich sehr subjektiven Bewertung -- hier Dagmar Leupolds "Die Helligkeit der Nacht. Ein Journal." (Beck, München 2009) genannt; in diesem Roman gerät allein der Versuch den Sprachduktus von Kleist wiederzubeleben zu einer gekünstelten Form. Hier "spricht" eben nicht ein Heinrich von Kleist, sondern "nur" eine Dagmar Leupold! (Das Buch ist jedoch allemal lesenswert, erfüllt jedoch keineswegs das mitintendierte Ziel, Kleistscher Ausdrucksweise auch nur annähernd zu entsprechen!) Wie man es anders -- also in Bezug auf "Auferweckung" von Heinrich von Kleist besser -- machen kann, zeigte Christa Wolf in ihrem "Kein Ort. Nirgends.", Luchterhand 1979: sie läßt den Dichter Heinrich von Kleist und die Dichterin Karoline von Günderrode (beide beendeten ihr Leben durch Suizid, Kleist in Berlin im Jahre 1811, Günderrode in Winkel am Rhein im Jahre 1806) einander begegnen und sie über das Dasein schlechthin räsonieren -- dies in einer jeweils recht authentischen Sprache. Zwei Zitate daraus als kleine Beispiele: "Doch zu Verstellung und Entgegenkommen fehlt mir ein für allemal die Lust. Ich fühle zu nichts Neigung, was die Welt behauptet. Ihre Forderungen, ihre Gesetze und Zwecke kommen mir allesamt verkehrt vor." (S.9) "Er finde viele Einrichtungen dieser Welt so wenig seinem Sinn gemäß, daß es ihm unmöglich sei, an ihrer Erhaltung und Ausbildung mitzuwirken. (S.87) Natürlich gibt es längst eine Unmenge von mehr oder weniger anregenden literarische Versuche über diesen großen Dichter Deutschlands. Darauf kann ich hier nicht weiter eingehen.
Doch ein Versuch "posthumer" Wiederbelebung Kleists sei an dieser Stelle noch aufgezeigt, zum einen weil ich ihn auch sprachlich als sehr gelungen ansehe, zum anderen weil er sehr schön zu meiner weiteren Darstellungen und Überlegungen über Heinrich von Kleist tauglich ist. Es handelt sich um Auszüge aus "Kleist. Ein Leben." von Anna Maria Carpi (Insel Verlag Berlin 2011, Übersetzung aus dem italienischen Original "Un inquieto batter d'ali - Vita di Heinrich von Kleist, S E P S Bolognia 2005).
Anna Maria Carpi "erweckt" Kleist wieder zu (s)einem Leben in heutiger Zeit und läßt ihn aus seiner gegenwärtiger Sicht (also lange nach seinem Tode) über sein früheres Dasein und Empfinden unter anderem ausführen:
"(...) Den anderen ist es nie leicht gefallen, mich zu verstehen. An mich und meine Schriften, wird später Ludwig Tieck sagen, der 1821 meine Werke herausgab, wobei der mich den 'unglücklichen Dichter' nannte, müsse man sich gewöhnen wie an einen neuen Bekannten, der eine Adlernase oder zu große Augen habe. Wie gebrechlich ist doch diese Welt. Die meisten wachten erst nach meinem Ende auf. Es war das schlechte Gewissen der anderen, das mir zu etwas so Unnützen verhalf, wie es der Nachruhm ist: Ein ganzes Jahrhundert lang war, im Gefolge von Tieck zu hören, wie die einen meine Muse priesen und die anderen sie verwarfen: 'der unglückliche Mensch', 'der Vernachlässigte', 'der Gequälte', 'der vom Unglück Verfolgte',,'diese schwer geprüfte Seele', 'der zu Tode Gemarterte', 'der Unglücklichste unter den großen deutschen Dichtern', 'das verunglückte Genie'. Ja - das verunglückte Genie - daran ist etwas Wahres. Die Menschen bevorzugen die Glücklichen, die Erfolgreichen, doch sie lassen sich auch gern ergreifen; oder sie haben eine Art Aberglauben, der sie zum Unglück hinzieht: Sie halten es für etwas Höheres. Ich habe immer das Gegenteil gedacht. (...) Und die Dichter? Von einigen großen wurde ich geliebt, von anderen, ebenso großen, nicht. Die Großen sind eine seltsame Spezies. Doch wer sich als rührig erwies, waren die Gelehrten, die Biographen, die Archivare. (...) Die 'Raupen' studierten alles über mich, was es zu studieren gab. Raupen: So nannte ich, als ich an der Universität Frankfurt beziehungsweise in der Verwaltung des preußischen Staates verkümmerte, die Professoren und Bürokraten, die das Blatt auf dem sie sitzen, für den Nabel der Welt halten. Und die einen feierten mich als Erneuerer, während andere sich bedroht fühlten und predigten: Paßt auf, unter all diesen Blumen verbirgt sich die Schlange der Modernität. Die Menschen unterteilen sich in brave, satte Anhänger des gesunden Menschenverstandes sowie der Einrichtungen dieser Welt und in hungerleidende Träumer, die eine andere herbeisehnen. Oder, wenn euch das lieber ist: in Maßvolle und in Mystiker. Die ersten, das weiß man, hatten ehrenwerte Kriterien und konnten mich nicht akzeptieren, und die zweiten ... ach! Die Träumer neigen dazu, Idolen anzuhängen; sie interessiert es nicht, die Vorzüge von den Mängeln zu unterscheiden, ihnen genügt schon ein einziger Vers, in dem sie sich zufällig widergespiegelt finden, um Feuer zu fangen und das Ganze als erhaben zu preisen. (...) Die Leute wollen sich zerstreuen, etwas lernen, und die kleinen Philister werden jetzt von einer Handvoll Experten geführt, die ihre Ansichten mit der Strenge von Theologen verkünden - und keiner von diesen Kleinen wagt es, seine eigene Meinung über einen berühmten Namen oder ein Kunstwerk, die ihm von oben vorgesetzt werden, zu sagen. Allein könnte er sowieso nicht urteilen, denn er hat sein natürliches Empfinden verloren, das für mich das Leben ausmachte. (...) Man spielt mich in den Theatern: Ich hätte, so verkünden diese Meister - und damit haben sie recht -, bestimmte Entdeckungen über die Seele und die Sprache vorweggenommen, die hundert Jahre nach mir gemacht wurden. Vorweggenommen? Ja, aber früher oder später liegen bestimmte Gedanken einfach in der Luft, und die Dichtkunst besteht nicht darin: Sie nimmt nicht vorweg und sie folgt nicht nach, dreitausend Jahre und heute sind für sie wie ein Atemzug. Jedenfalls, mein Name ist nun geheiligt, die Leute haben sich an meine Adlernase und meine zu großen Augen gewöhnt. Wie fern sind doch alle meine Qualen, aber aus Konformismus zieht mich niemand mehr in Zweifel: Die Leute füllen die Theater und ertragen mich. Ach, das ist es nicht, wovon ich geträumt hatte, nicht dafür habe ich gelitten. Ich wollte die andern zu mir, in mein Herz, einladen, zu meinen Freunden, zu meinem Fest, an das niemand geglaubt hat. Was ist der Ruhm denn anderes als viele Gäste, als alle bei sich zu haben - aber als Lebender unter den Lebenden und für immer! Mein Schicksal im Leben und im Tod war ein Mißverständnis. Doch ein Mißverständnis ist vielleicht jedes Schicksal." (Anna Maria Capris, a.a.O., S. 18 - 22)
"Er gehört zu den großen Notwendigkeiten der Menschheit. Er gehört zu denen, die aus dem chaotischen Material des Lebens eherne und gültige Formen schweißen. Seine vollkommenen Werke haben jenen Charakter der Anonymität, der allen außerordentlichen Kunstwerken eigen ist."
Jakob Wassermann über Heinrich von Kleist
"Ich soll tun, was der Staat von mir verlangt, und doch soll ich nicht untersuchen, ob das, was er von mir verlangt, gut ist. Zu seinen unbekannten Zwecken soll ich ein bloßes Werkzeug sein -- ich kann es nicht."
(Heinrich von Kleist in einem Brief an seine Braut, nachdem er sich zunächst zuvor eine Stellung als Volkswirtschaftler im Preußischen Wirtschaftsministerium gewünscht hatte; zit.n.Heinrich von Kleist, Monograpie Rowohlt, 1974, S.28)
"Weißt Du, was die alten Männer tun, wenn sie 50 Jahre lang um Reichtümer und Ehrenstellen gebuhlt haben? Sie lassen sich auf einen Herd nieder; und bebauen ein Feld. Dann, und dann erst, nennen sie sich weise. -- Sage mir, könnte man nicht klüger sein, als sie, und früher dorthin gehen, wohin man am Ende doch sein soll?"
(Heinrich von Kleist, Brief aus Paris vom 10. Oktober 1801 an Wilhelmine von Zenge, zit. n. K.F. Reinking, Hrsg., Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke, Löwit Wiesbaden o.J., S.1201)
Und hat er danach gehandelt? Hat er überhaupt danach handeln können? Und: hat er es überhaupt so gewollt? Hat ihn jene Einsicht (so es denn eine real bleibende gewesen sein sollte!) dem eigentlichen Leben näher gebracht? -- Seinem eigenen vielleicht schon! möchte ich jenen sich wohl für sakrosankt haltenden Kritikern zurufen und ihnen eindringlich zu bedenken geben ... Und was soll es denn überhaupt sein: dieses "eigentliche" Leben? Wer vermag darüber zu bestimmen, wenn nicht jeder überwiegend für sich selbst allein?
Hatte sich beispielsweise J.v.Goethe nicht etwas übernommen, als er Heinrich von Kleist (nach Goethes völlig mißlungener Aufführung von Kleists "Zerbrochnen Krug" im Hoftheater zu Weimar) sein eigenes Versagen Kleist zuordnete, indem Goethe diesen in Anlehnung an Schiller einer schweren "Verirrung der Natur, die den Grund ihrer Entschuldigung allein in einer zu großen Reizbarkeit der Nerven oder in Krankheit finden kann" bezichtigte. Goethe hatte in seiner Inszenierung das Stück in drei Akte mit Pausen aufgeteilt, dadurch das Stück künstlich in die Länge gezogen und so in einer Art Sebsterfüllenden Prophezeihung (self-fulfilling prophecy, Theorie von Robert King Merton) erst das geschaffen, was er im Vorfeld Heinrich von Kleist dann vorgeworfen hatte: eine bestehende Handlungsarmut des Stücks! Wie kam aber Goethe überhaupt in diesem Zusammenhang auf derart persönliche Angriffe in Richtung Kleist? Das mag vielleicht Goethes Vermutung geschuldet sein, Kleist habe ihm zum Duell herausgefordert, was sicherlich nicht der Fall gewesen war (Kleist kämpfte nicht mit Waffen, sondern mit Geist und Worten gegen Goethe!). Es klingt schon seltsam, was Johann Wolfgang von Goethe gegenüber Johannes Daniel Falk geäußert haben soll: "Sie wissen, welche Mühe und Proben ich es mir kosten ließ, seinen ,Wasserkrug’ aufs hiesige Theater zu bringen. Daß es dennoch nicht glückte, lag einzig in dem Umstande, daß es dem übrigens geistreichen und humoristischen Stoffe an einer rasch durchgeführten Handlung fehlt. Mir aber den Fall desselben zuzuschreiben, ja, mir sogar, wie es im Werke gewesen ist, eine Ausfoderung deßwegen nach Weimar schicken zu wollen, deutet, wie Schiller sagt, auf eine schwere Verirrung der Natur, die den Grund ihrer Entschuldigung allein in einer zu großen Reizbarkeit der Nerven oder in Krankheit finden kann."
Zwischenbemerkung: Wie glaubwürdig sind Falks Aussagen? Zweifel daran sind eher unangebracht. Falk, der ursprünglich eine literarische Karriere im Kreis der Weimarer Großen im Sinn hatte, änderte angesichts der sozialen Not als Folge der napoleonischen Kriege sein Ziel: er initiierte die "Gesellschaft der Freunde in der Not", baute 1813 ein für die Jugendfürsorge sehr zukunftsweisendes Sozialwerk auf, verwirklichte das Prinzip "Erziehung zur Freiheit durch Erziehung in Freiheit" in dem von ihm gegründeten "Lutherhof" -- all dies verschaffte ihm Goethes große Anerkennung. Zudem schätzte Goethe an Falk dessen ungezwungene Art, auch daß Falk anderen -- selbst Goethe -- nicht "nach dem Mund redete". Gegenüber Goethe verhielt sich Falk zumeist recht anhänglich, was ihm letztlich auch den Vorzug brachte, "sich in Goethes Haus hin und wieder als geschätzter Gesprächspartner" aufhalten zu dürfen. Gleichwohl war das Verhältnis zwischen Falk und Goethe auch immer wieder erheblichen Spannungen unterworfen. Beispielsweise bezeichnete Goethe Johannes Daniel Falk auch schon mal wegen dessen als amtlicher Übersetzer verfassten Kritik bezogen auf die napoleonische Schlacht bei Jena-Auerstedt und deren Folgen mit einem nicht gerade freundlichen und wohlwollenden "Die Übel sind groß und ein Narr wie er kann sie nur vermehren". Über sein ambivalentes Verhältnis zu Goethe schreib Falk selbst einmal in einem Brief vom 16. März 1801 an Wilhelm Körte (Literaturhistoriker und Domvicar): "Oft hab' ich in den vergangenen Jahren darüber nachgedacht, aus welchem Grunde es zwischen uns beiden, dem Herrn Geheimen Rat und mir, noch zu keinem rechten Verhältnis kommen wollte (Du verzeihst, dass ich die beiden so in einem Atem nenne; ich bin mir bewusst, um wie viele Ellen mich der Dichter überragt). Allerdings gehöre ich nicht zu den jungen Leuten, die mit eingezogenem Atem den Worten des Meisters lauschen, als ob er wie die delphische Pythia Orakelsprüche von sich gäbe. Ich bin ein vorwitziges Danziger Kind und widerspreche offen, falls ich anderer Meinung bin. Auch einem Goethe." Fakt ist aber: Falk war ein sehr eifriger und gewissenhafter Chronist und fasste all seine Notizen um 1824 für den Leipziger Verlag F.A.Brockhaus zusammen und 1832, nur zwei Monate nach Goethes Tod, wurden diese dann veröffentlicht.
Doch an dieser Stelle erlaube ich mir nochmals einen Blick auf die Geschehnisse um Kleists Stück "Der zerbrochne Krug". Nachdem Goethe 1907 von Adam Müller eine Abschrift vom "Zerbrochnen Krug" zusammen mit Kleists "Amphitryon" erhalten hatte, kritisierte der Geheimrat den Zerbrochnen Krug als ein "dem unsichtbaren Theater" angehöriges Stück, weil es vergangenes Geschehen nur in Dialogen enthülle, anstatt Aktionen in der Gegenwart selbst zu zeigen. Weshalb Goethe trotz seiner heftigen Kritik das Stück dennoch aufführte, ist vor diesem Hintergrund widersinnig. Allerdings ist ein Gedanke nicht von der Hand zu weisen: Wollte Goethe durch seine Inszenierung zeigen, wie das Stück "besser" werden könnte? Wollte er hier als der große Belehrer dastehen? Sich selbst einmal mehr inszenieren? Sollte das seine Absicht gewesen sein, dann haben ihm spätestens der "wahre Heidenlärm im Theater", die "in demonstrativster Weise durch Pfeifen, Zischen etc." gezeigten Mißfallensbekundungen des Publikums -- so die Berichte von Augenzeugen -- ein Scheitern dieses Vorhabens offenbart. Jedoch wurde nicht Goethe von den Zeitungen ob der schlechten Inszenierung kritisiert, auch nicht die Schauspieler -- sondern: Heinrich von Kleist ...
Es war von Goethe schlicht falsch, das Stück mit seinen einundneunzig "Regeln für Schauspieler" anzugehen und auf ein Lustspiel zu übertragen: dies erzeugte sicherlich viel unfreiwillige Komik, stellte jedoch das Stück und Kleists Leistung in das falsche Licht, bewirkten somit den Mißerfolg. Aber Goethe hatte eben Gewicht, war eine autoritäre Persönlichkeit, galt fast schon als sakrosankt, denn über jene Regeln hinaus, wirkte Goethe als "vorschreibender und strafender Vorgesetzter in elementaren Fragen des privaten und gesellschaftlichen Lebens", wie er auch ebenso entschieden "gegen das Publikum" vorging. Es mußte artig sein, die Kritiker auch." (Joseph Bergenthal, "Man lache nicht!" Intendant Goethe.; ZEIT ONLINE, 28. April 1949 / Archiv: Die Zeit 17/1949)
Natürlich war dieses Verhalten Goethes zumindest zu großem Teil auch seiner Stellung und der vorgeschriebenen Rücksichtnahme gegenüber dem Hofzeremoniell geschuldet. Aber Sätze wie "man lache nicht!" (an ein Publikum adressiert, das an dieser Stelle im Theaterstück laut Goethe eben nicht zu lachen habe) oder "Das Theater ist bloß für Männer und Frauen, die mit menschlichen Dingen bekannt sind." (Welch Bevormundung und arrogante Selektion sprechen daraus!), aus jenem großen Munde haben gewiß in der damaligen Zeit ihre Wirkung entfacht. Selbsterklärend hinsichtlich Goethes Vorstellung von "Zulässigem", letztlich von einer von ihm zumindest implizit ausgeübten "Zensur" -- dies besonders aus meiner Sicht mit Blick auf Kleists Adaption zu sehen --, dürfte auch diese Festlegung Goethes sein: "(...) Von der Tragödie bis zur Posse, mir war jedes Genre recht; aber ein Stück mußte etwas sein, um Gnade zu finden. Es mußte groß und tüchtig, heiter und graziös, auf alle Fälle aber gesund sein und einen gewissen Kern haben. Alles Krankhafte, Schwache, Weinerliche und Sentimentale, sowie alles Schreckliche, Greuelhafte und die gute Sitte Verletzende war ein für allemal ausgeschlossen; ich hätte gefürchtet, Schauspieler und Publikum damit zu verderben. (...)" (ZEIT ONLINE, ebd.) Hier ergibt sich doch ganz leicht durchschaubar ein unendlich weites Feld für Ideologiekritik! Hier zeigt sich, wie jemand sich ein Fundament für selbstherrliche Ausgrenzung und Qualitätsbewertung zu verschaffen vermag. Mit Blick auf die Aufführung des Zerbrochnen Krugs noch folgende aufschlußreiche Information: "Als nach der verunglückten Aufführung von Kleists 'Zerbrochenem Krug' jemand zu pfeifen wagte, sprang Carl August in großer Erregung auf und schleuderte diese wunderschönen Sätze ins Parkett: 'Wer ist der freche Mensch, der sich untersteht, in Gegenwart meiner Gemahlin zu pfeifen! Husaren, nehmt den Kerl fest!' Goethe dagegen, der für die schlechte Inszenierung verantwortlich war, hat in diesem Fall mit dem Herzen dem Pfeifer zugestimmt und später gesagt: 'Der Mensch hat gar nicht so unrecht gehabt; ich wäre auch dabei gewesen, wenn es der Anstand und meine Stellung erlaubt hätten.' " (ebd.)
Kleist war bei dieser völlig mißglückten Aufführung übrigens nicht zugegen, was Wunder daß ihn dieses durch Einteilung in Akte künstlich in die Länge ziehende und sein Werk verfremdete Agieren Goethes verärgerte. Kleist veröffentlichte daraufhin in seiner Zeitschrift "Phöbus" Ausschnitte aus dem "Zerbrochnen Krug", um sich auf diese Weise zu rehabilitieren. Es ist allein Goethe anzulasten, daß "Der zerbrochne Krug" damals nicht die Anerkennung erfuhr, die er eigentlich verdient gehabt hätte. Diese Anerkennung wurde aber im Laufe der Zeit bis heute dem Stück zuteil (er gehört längst zu den meistgespielten Stücken deutscher Dichtkunst) und Goethe damit auch deutlich widerlegt. Allerdings dürfte auch Goethe die Grenzen der Machbarkeit als Intendant und Dramatiker bisweilen bitter erfahren haben, spätestens am Ende seiner Zeit im Weimarer Theater, denn wie wäre er sonst zu der Aussage "Ich hatte wirklich einmal den Wahn, als sei es möglich, ein deutsches Theater zu bilden. Ja, ich hatte den Wahn, als könne ich zu einem solchen Bau einige Grundsteine legen." kommen können. Er spricht von "Wahn", also von einem Attribut, das er gerne ab und an auch Kleist zuordnete ...
Goethe hat sich in der Beurteilung Kleists aber schon mehrfach ziemlich "vergriffen": Wie kommt er nur zur Auffassung, dem Zerbrochnen Krug fehle es an einer rasch durchgeführten Handlung. Dieses Urteil ist schlicht: Blödsinn. (Wenn schon, dann hat Goethe mit seiner Inszenierung diese "rasch durchgeführte Handlung" zerstört ...) Das Stück ist genial konstruiert, von klarer Stringenz, die Handlung entfaltet sich spannend und die Zuschauer einbindend. Ein Drama eigentlich, das jedoch die komödienhaften Züge durch den Umstand, daß der Täter von Anfang an zwar allen bekannt ist, die Tat dem Täter selbst jedoch (noch) nicht, sie also erst im Laufe der Handlung ihm deutlich wird, erhält. (Aus meiner Sicht läßt sich bei dem Stück tatsächlich von zwei parallel laufenden Erzählsträngen sprechen: Man findet hier Züge einer Analepse, ein Ereignis, das zeitlich vor dem jeweils bisher Erfahrenen stattgefunden hat, wird für den Richter Adam -- nicht jedoch für das Publikum! -- erst im Laufe der Entwicklung deutlich, einzigartig die Dynamik, wie er so allmählich "erkennt" und sich dann versucht herauszuwinden, zu rationalisieren -- was das Komödienhafte zunehmend verstärkt. Andererseits wird das Publikum -- auch wenn es für die meisten durchaus relartiv einfach zu antizipieren sein dürfte -- vor die "Aufgabe" gestellt, sich damit auseinanderzusetzen, wie sich die Geschichte denn bis hin zum Schluß, zur Klärung, entwickeln wird / könnte; somit finden wir in diesem Stück zugleich proleptische Bestandteile, das Vorwegnehmen, die Vorahnung von Zukunft: es wird eine entsprechende Zuschauererwartungshaltung erzeugt. Diese doppelte Funktion des Stücks ist Goethe offensichtlich entgangen.)
Immerhin hat Goethe anerkennen können, daß es sich um einen "übrigens geistreichen und humorvollen Stoffe" handele ... Goethe kritisierte übrigens auch die Erzählung "Michael Kohlhaas", in der "alles gar zu ungefüg" komme. Goethe hat die Arbeit Kleists -- und sicherlich auch den Menschen Kleist -- nicht (richtig) verstanden, vielleicht war er ja auch nicht in der Lage einen entsprechenden Perspektivenwechsel vorzunehmen. Welche Fundierung bezogen auf seine (Kleists) Werke hat Goethes Urteil, nämlich in den Werken des jungen Autors (gemeint ist Kleist) zeige sich eine "Contorsion", eine Verrenkung, also eine "Verwirrung des Gefühls", die "keine neue Art von Organisation" mehr entstehen lasse? Wenn damit auch die Organisation einer Umsetzung auf der Bühne gemeint sein sollte, dann erhebt sich doch zugleich die Frage nach der entsprechenden Kompetenz des Regisseurs und der Schauspieler. Was soll man denn mit der Widersprüchlichkeit in Goethes Satz, Kleists Texte seien "ein bedeutendes, aber unerfreuliches Meteor eines neuen Literatur-Himmels", anfangen? Und vor allem: unerfreulich für wen und was? Zu modern? Zu aufklärerisch? Zu direkt? Zu aufsässig gegenüber der herrschenden Ordnung und Sichtweisen? Kam es denn Heinrich von Kleist nicht gerade auch auf das Aufzeigen des unberechenbaren Dritten, also des sich außerhalb allem denkbaren Befindlichen an, auf das Ansprechen jenes Unorganisierbaren zwischen Freund und Feind, Mann und Frau, Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, also auf Erscheinungsformen in einer als vernünftig gesehenen, gleichwohl von Antagonismen durchdrungenen Welt? Hat Heinrich von Kleist nicht auch die Dichotomie zwischen der Klassik und Romantik aufgelöst? Daß er die Dinge nicht in der konventionellen Trennschärfe und angeblichen Eindeutigkeit, Klarheit sehen wollte und konnte, zeigt auch seine Wahrnehmungsphilosophie, die sicherlich unter anderen Faktoren ein Ergebnis seiner Kant-Krise war. Die angeblich so rational handelnden Personen erkennen die Wahrheit nicht, der blinde Großvater stattdessen sehr wohl, so eine Quintessenz aus "Die Familie Schroffenstein", von Kleist verfaßt und anonym 1803 erschienen, Uraufführung im Nationaltheater in Graz am 9. Januar 1804. Kleist setzt sich in diesem Stück einmal mehr sehr kritisch mit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit auseinander; aber auch dieses Werk wurde damals nicht in seiner Genialität, Mehrdeutigkeit und Tiefsinnigkeit erkannt.
In diesem seinem Erstlingswerk zeigt sich, daß Kleist -- wohl nach der Beschäftigung mit Kant und auch mit Fichte -- der "Wahrheit" und der objektiven Weltanschauung nicht mehr vertraute (Details zu Kleists Entwicklung und Werke dann unten nach den Bildern über seine letzte Ruhestätte): das Stück behandelt die Gespaltenheit der Welt im allgemeinen, die Ursachen dieser Gespaltenheit und deutet auch Möglichkeiten ihrer Überwindung an. Nichts deutet mehr an einen Glauben, die Erreichung einer großen Glückseligkeit durch Einhaltung eines Lebensplans schaffen zu können. Die völlige Verfälschung der Realität, verursacht durch Mißlingen von Kommunikation, Vorverurteilungen, Mißgunst, Hass und tiefes Mißtrauen, Verkennen jeglicher Realität als Wurzel für Konflikte und Tod -- das alles ist ein wesentlicher Gegenstand in "Die Familie Schroffenstein" -- durchaus auch für unsere Gegenwart sehr aktuelle Bezüge ... Nochmals: für fast alle Protagonisten spielt die Realität keine Rolle mehr, wahr ist das, was als wahr scheint. Erst ein Blinder schafft es, die wirkliche Wahrheit zu erkennen. Vieles mag so manchem in diesem Drama nicht überzeugend erscheinen, stark überzeichnet wirken, jedoch zeigt es Kleists pessimistische Grundhaltung recht deutlich. Die dumpfe Blindheit der beiden Familienoberhäupter, der Umstand des Täuschens und Betrügens fast aller Beteiligten, zeigen Kleists (neu gewonnene?) negative Weltsicht. In "Die Familie Schroffenstein" werden wir immer wieder konfrontiert mit einer sehr bedrohlichen Welt, mit Irrtümern, fehlenden Erkenntnisse und trügerischen Gefühlswelten. Die Verkennung der Realität, die Sprachproblematik (Verständnislosigkeit, Sinn- und Begriffsverwirrung), das Fehlen einer Daseinsordnung deuten auf eine Kleistsche Position zwischen (abnehmender) Hoffnung und (zunehmender) Verzweiflung. Ein Gefühl der Ausweglosigkeit, weil auch die Liebe (der beiden Kinder, Stichwort: deren Kleidertausch, um jeweils den anderen vor der Rachsucht zu schützen) den Antagonismus zwischen Irrtum und Glaube nicht mehr aufzuheben vermag? Man kann es durchaus so verstehen. Bereits von seinem ersten Drama auf Indizien für seinen späteren Freitod schließen zu wollen, wie das bisweilen geschieht, erscheint mir jedoch eher ein Produkt aus der Retrospektive einer Kleistbetrachtung ex posteriori zu sein denn eine wirkliche Entsprechung zu haben.
Ich werde mich unterhalb der Fotostrecke dann ausführlicher -- allerdings nur mit ausgewählten Aspekten -- mit Kleist und seinem Werdegang, seiner seelisch-geistigen Verortung und seinem Denken beschäftigen. Dies natürlich dann jeweils in engem Zusammenhang mit seinem Schaffen. Es ist wenig hilfreich, wenn derart kursive Schilderungen über Kleist präsentiert werden, wie von Florian Russi in seinem Buch "Worauf wir stolz sein können" (Bertuch Verlag Weimar, 2.Auflage 2005) geschehen: "1811 veröffentlichte Heinrich von Kleist (1777-1811) das Schauspiel »Der Prinz von Homburg«. Der in Frankfurt an der Oder geborene Dichter, der mit 34 Jahren den Freitod suchte, hat in seinem kurzen Leben bedeutende Dramen, Erzählungen und Novellen verfasst. Seine Schauspiele, so das Lustspiel »Der zerbrochne Krug«, werden noch heute häufig aufgeführt, und sein »Michael Kohlhaas« ist zum Synonym für aussichtslose Rechthaberei geworden." Was übrigens "Michael Kohlhaas" angeht, ist leider -- auch von namhaften Interpreten -- der Trend unübersehbar, hier mit "Rechthaberei" zu argumentieren. Jedenfalls dürfte Kleist diese vereinfachende Sicht und Deutung kaum im Sinne gehabt haben als er diese Novelle schrieb; es dürfte ihm mehr um die Ohnmacht gegenüber einer willkürlichen Fixierung von "Wahrheit" und "Wirklichkeit" gegangen sein, die er spiegeln wollte. Es stellt sich nämlich gerade beim "Michael Kohlhaas" die Frage, wie lange man bei erlebter Ungerechtigkeit schweigen, nachgeben, sich unterordnen sollte und ab wann dann (endlich?) ein Wehren erlaubt sei, dies dann noch in Bezug auf Wirksamkeit. Es ist gewiß durchaus auch sehr zeitgemäß, wenn man das dahinterliegende "Wehret den Anfängen!" in Anbetracht möglicher Ausuferungen bei Schweigen und anderem Nichthandeln sich immer wieder vor Augen führt! Damit sind wir neben der sozialen Dimension natürlich auch inmitten der politischen.
Heinrich von Kleist wurde immer wieder für irgendwelche Zwecke funktionalisiert, die er selbst wohl so nicht immer gutgeheißen hätte. So hat man ihn im Wilhelminischen Kaiserreich als vaterländischen Dichter verkürzt usurpiert; dies geschah (leider! aber wohl nicht verhinderbar!) unter den Nationalsozialisten gleichermaßen, vielleicht sogar noch in verstärktem Umfang. Heinrich von Kleist hätte dazu sicher nicht seine Zustimmung gegeben, denn sowohl das Kaisertum als auch die Nazis mit ihren Kriegen und verbrecherischen Taten haben genau das verstärkt, was Kleist zutiefst zuwider war und ihn immer wieder mit Besorgnis erfüllte: die Zerrissenheit und Abründigkeit der menschlichen Seele, die Sprachverkürzung (da sollten man heutzutage übrigens die "Glocken läuten hören" wenn es um die Politische Korrektheit geht!), die nicht (mehr) greifbare Wirklichkeit. Oft wird der Widmungsspruch auf der Handschrift der "Hermannsschlacht" für Kleists Vereinnahmung betont. Unter "Die Tiefste Erniedrigung" heißt es dort "Wehe, mein Vaterland, dir! Das Lied dir zum Ruhme zu singen, / Ist, getreu, dir im Schoß, mir, deinem Dichter, verwehrt!" (K.F. Reinking, Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke, S. 1078)
Hier sollte man (bzw. hätte man sollen) die Qualität der sogenannten "Vaterlandsorientierung", somit Kleists jeweilige Vorstellung von "Vaterland", einer gründlichen Untersuchung zuführen müssen, ehe man vorschnell -- und sachlich deplaziert -- den Dichter für ureigene Zwecke vereinnahmt und mißversteht.
Auch Klaus Schlesingers "Idee", die er gegenüber seinem Lektor Kurt Batt äußerte, "Kleist, wahrscheinlich wäre er bei der APO (...)" gewesen (wenn dies so historisch möglich gewesen wäre -- sozusagen als "Gnade einer späteren Geburt", so es denn eine ist ...) halte ich gerade in Anbetracht der Abläufe von Auseinandersetzungen innerhalb der APO, auch gerade was Kommunikation, Wahrheit, Weltbild, Daseinsorientierung angeht, für absurd. Ich bin der festen Überzeugung -- ohne mich weiter an derart hypothetischen Spielchen beteiligen zu wollen: Heinrich von Kleist hätte mit der APO wohl kaum etwas im Sinne gehabt, und falls anfänglich doch, hätte er nach vorsichtigen zaghaften Annäherungen dann sehr schnell die Flucht ergriffen, die klare Distanzierung gesucht. (Über Schlesingers "Idee" kann man nachlesen in: Klaus Schlesinger, "Deshalb ist Literatur immer eine Form der Freiheit", S. 340)
Eine für mich sehr zielführende und sachlogisch erscheinende Umgangsweise mit Kleist und seinem Tod am Kleinen Wannsee hat Günter Blamberger geleistet: "Fast jeder Biograph schreibt seine Geschichte von ihrem monströsen Ende her und versucht in den Brandzeichen des Körpers die der Seele zu lesen. Der Selbstmord am Wannsee 1811 gilt nur als die finale Katastrophe einer Lebensgeschichte, die sich als permanente Krisengeschichte darstellt und damit als letzte Konsequenz eines Nonkonformisten, der -- einer staatstragenden Familie entstammend -- den Militärdienst quittiert, das Studium abbricht, die standesgemäße Verlobung mit der Generalstochter Wilhelmine von Zenge beendet, den Versuch einer Beamtenlaufbahn rasch aufgibt, erfolglos ist bei den Zeitgenossen als Dichter und gescheitert mit dem großen journalistischen Projekt der Berliner Abendblätter. Eine einzige Kette von Enttäuschungen und Versagen, die das Selbstopfer erklären soll. Dabei ist es umgekehrt: Aufgrund des rätselhaften Todes stellen die Biographen Kleists ganzes Leben im Nachhinein unter Melancholieverdacht, und seine Werke gelten ihnen somit als Dokumente des Leidens. Vernünftiger scheint es zu versuchen, ein Leben nicht von seinem Ende, sondern von seinen Anfängen zu verstehen, aus den Prägungen seiner Kindheit." (Günter Blamberger, Heinrich von Kleist. Biographie, S.Fischer Frankfurt am Main 2011, S. 14)
Für sich selbst zieht Blamberger dann bei seiner Kleist-Betrachtung folgende Konsequenz: "Ich kann dabei wie jeder Biograph weiterhin linear-chronologisch erzählen, aber nicht teleologisch. Ich verzichte auf die epische Zielspannung und denke nicht an Resultate, auf einen prospektiven Höhepunkt des Lebens oder auf ein spektakuläres Ende hin, sondern versuche das Beunruhigende und Staunenswerte in jedem Lebensabschnitt zu zeigen, den Zündstoff in jeder von Kleists biographischen und literarischen Versuchsanordnung. (S. 15)
Ich komme nochmals auf Goethe und seine Ansicht über Kleist zurück. Wenn er sich äußerte "Es gebe (bei Kleist) ein Unschönes in der Natur, ein Beängstigendes, mit dem sich die Dichtkunst bei noch so kunstreicher Behandlung weder befassen, noch aussöhnen könne. Und wieder kam er (Goethe) zurück auf die Heiterkeit, auf die Anmuth, auf die fröhlich bedeutsame Lebensbetrachtung italienischer Novellen, mit denen er sich damals, je trüber die Zeit um ihn aussah, desto angelegentlicher beschäftigte.", könnte man vielleicht auf die Idee kommen, Kleist habe Grund genug gehabt, den ehrwürdigen Herrn aus Weimar wenig oder keine Beachtung zu schenken. Dem war jedoch nicht so, Kleist hatte den jungen Goethe geschätzt, wie man unschwer aus einer kritischen Bemerkung über den "alten" Goethe entnehmen kann, dem Epigramm "Herr von Goethe": "Siehe, das nenn' ich doch für würdig, fürwahr, sich im Alter beschäft'gen! / Er zerlegt jetzt den Strahl, den seine Jugend sonst warf." (K.F. Reinking, Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke, S. 1094) Was die Goethesche "Heiterkeit", "Anmuth", "fröhlich bedeutsame Lebensbetrachtung italienischer Novellen angeht, kann man vielleicht sogar eine zumindest leidenschaftliche Hinwendung des alternden Goethes zum Eskapismus unterstellen; aber mit derartiger Realitätsflucht, Weltflucht zugunsten einer imaginären oder möglichen Wirklichkeit konnte, und auch: wollte, Kleist ganz gewiß nicht aufwarten.
Günter Blamberger zieht bezogen auf das Verhältnis von Kleist und Goethe sowie vice versa folgenden (vorsichtigen) Schluß: "Es mag eine Künstlerlegende sein, dass Kleist, einer Erinnerung seines Freundes Pfuel zufolge, nur „das eine Ziel“ gehabt habe, „der größte Dichter seiner Nation zu werden“, er folglich Goethes „Vorrang gehaßt“ habe und ihm „den Kranz von der Stirn reißen“ wollte. Die Opposition von Kleist und Goethe spielte zu Kleists Lebzeiten, über die Ereignisse des Jahres 1808 hinaus, allerdings kaum eine Rolle. Wichtig wird sie erst und vor allem für Kleists Nachruhm, für seine Missachtung im 19. Jahrhundert, das sich Goethes „Schauder und Abscheu“ vor Kleists heillosem Leben und heillosem Werk anschließt, und für seine Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert, als die Autoren der Moderne Goethes Ignoranz schelten." (a.a.O., S. 324)
Was jedoch das Bleibenswerte eines Lebens ausmacht, das hat Kleist für sich selbst einmal, auf die Begrifflichkeit "Nachruhm" abhebend, in einem Brief (vom 15. August 1801) an Wilhelmine von Zenge so formuliert: "Nachruhm! Was ist das für ein seltsames Ding, das man erst genießen kann, wenn man nicht mehr ist?" Man sollte diese rhetorische Frage nicht überinterpretieren; sie deutet wohl schlicht auf die von ihm so gesehene Brüchigkeit sowie Endlichkeit allen Ruhms und Seins, zeigt aber auch eine relativierende Sicht auf Lebensperspektiven, auf mögliche Lebenspraxis in geruhsamen Bahnen und saturiertem Sein schlechthin. Unzufriedenheit als Antriebsfeder für permanentes Suchen und Bewegen? Sie weist letztlich allerdings auch auf das Alpha und Omega menschlichen Seins und der wie auch immer gestalteten oder gestaltbaren Phase dazwischen hin. Und diesem Weg aus dem Anfang, dem Dazwischen und dem Ende möchte ich mich nun noch etwas näher widmen.
Heinrich von Kleist, geboren am 18. Oktober 1777 in Frankfurt / Oder (Diese Angabe laut Kirchenbuch; nach eigener Angabe jedoch am 10. Oktober 1877: er schrieb in einem Brief am 10./11. 1800 an Wilhelmine von Zenge "Ja, mein Geburtstag ist heute".)
Heinrich von Kleist, gestorben am 21. November 1811 am Kleinen Wannsee (Berlin) (damals: Stolper Loch)
Das Kleistgrab vor der Umgestaltung des Geländes anläßlich Heinrich von Kleists 200. Todestag am 21.11.2011:
Wie man (an 3 Photos) leider auch hier wieder feststellen kann und muß: einigen Schmierfinken geht jegliche Achtung und Ehrfurcht ab, offensichtlich auch jegliche Toleranz gegenüber anderen ...
Das Kleistgrab nach der Umgestaltung anläßlich des Kleist-Jahres:
Alles erscheint an jenem Platze für viele nun sicherlich schön übersichtlich; daß das nun im Sinne des großen Dichters gewesen wäre, darf jedoch füglich bezweifelt werden. Ihm waren doch gerade die urwüchsigen Dinge offenkundig näher am Herzen und in den Sinnen als das administrativ Gepflegte.
Das Kleistgrab am Kleinen Wannsee wurde anläßlich des 200. Todestags des Dichters Heinrich von Kleist erneut umgestaltet. Es ist nicht völlig gesichert, daß der jetzige Ort des Grabsteins auch tatsächlich der Ort ist, an dem der Dichter gemeinsam mit einer todkranken Freundin, Henriette Vogel, den Tod suchte. Das Datum des Todes beider: der 21. November 1811. Es kann durchaus sein, daß der Selbstmord in einiger Entfernung von der Stelle vollzogen wurde; vielleicht hat man das Grab bzw. nur den Grabstein später versetzt.
Man findet das Kleistgrab im Südwesten Berlins (S-Bahnhaltesstelle Wannsee aussteigen, dann ein relativ kurzer Fußweg, der Weg ist ausgeschildert) zwischen der Bismarckstraße und dem Kleinen Wannsee. Weshalb liegt das Grab dort und nicht auf einem Friedhof? Zu Kleists Zeiten war es nicht erlaubt, Selbstmörder auf einem Friedhof zu bestatten; so begrub man die Leichen oft an Ort und Stelle des Todes.
Wie der Grabstein vor der Neu- / Umgestaltung aussah, ist weiter oben zu sehen. "NUN, O UNSTERBLICHKEIT, BIST DU GANZ MEIN.", lautet auf diesem die Aufschrift, zusätzlich versehen mit dem amtlichen Geburtsdatum Heinrich von Kleists (18. Oktober 1777) und seinem Todesdatum (21. November 1811) Auch die gesamte Anlage zeigte damals ein anderes Erscheinungsbild: abgeschiedener, verwildeter, weniger offen "nach außen", sicherlich auch etwas unbequemer zu begehen, weniger geeignet für größere Gruppen zur gleichen Zeit, aus meiner Sicht: passender, schöner, besser für Besinnlichkeit. Aber, wie gesagt, das ist meine sehr persönliche Meinung, das ist mein Eindruck aus diversen Besuchen dort -- sowohl vor als auch nach der Umgestaltung. Das kann man durchaus auch anders empfinden, je nach Naturell ...
Der Grabstein ist nicht der Originalgrabstein gewesen, er stammt aus der NS-Zeit. Die Nazis versuchten natürlich auch Kleist (wie andere ausgewählte Dichter auch) für ihre Zwecke zu mißbrauchen. Anläßlich der Olympiade 1936 wurde der Grabstein von den Nationalsozialisten ausgetauscht. 1941 ersetzten sie dann auch die Verse "Er lebte, sang und litt / In trüber, schwerer Zeit, / Er suchte hier den Tod / Und fand Unsterblichkeit" des jüdischen Dichters Max Ring durch das o.g. Zitat aus Heinrich von Kleists Theaterstück "Prinz Friedrich von Homburg. Der Gedenkstein für Henriette Vogel wurde erst 2003 errichtet.
Bei der Neugestaltung des Grabsteins findet man nun auf beiden Seiten des Steins eine Inschrift: auf der Vorderseite wieder die Worte von Max Ring, zugleich wurde nun auch der Name von Henriette Vogel eingraviert. Die Rückseite des Steins ist identisch mit der alten Inschrift vor der Restaurierung (NUN, O UNSTERBLICHKEIT, BIST DU GANZ MEIN.)
Eines scheint mir noch erwähnenswert: das Geburtsdatum Kleists ist auf der Vorderseite nicht identisch mit dem auf der Rückseite. Vorne nun der 10. Oktober 1777 (so hat Kleist selbst sein Geburtsdatum angegeben), hinten jedoch der 18. Oktober 1777 (das amtliche Geburtsdatum laut Kirchenbucheintrag). Auch kann man jetzt auf den neu angelegten Wegen bequem um das Grab herumgehen, kann auf einem Weg von der Königsstraße fast bis zum Kleistgrab gehen: der Weg mündet -- die Anlage eines Rudervereins zwingt dazu -- kurz vor dem Gelände mit dem Kleistgrab in die Bismarckstraße, von der man dann zur Grabstätte und zum schmalen Seeufer gelangen kann.


Durch die Neugestaltung des Weges zum Kleistgrab und seiner Grabstätte ist es für viele sicherlich einfacher, wohl auch interessanter, seinen letzten Ort zu besuchen. Informationstafeln stehen an der Bismarckstraße Ecke Königstraße und auf dem Weg zum Kleistgrab, sie informieren über Kleist und Henriette Vogel; zumindest zur Zeit der Eröffnung des neuen Weges konnte man am S-Bahnhof Wannsee Audioguides erhalten und über Kopfhörer auf dem Parcour, beginnend an der Dampferanlegestelle und dann am Wannsee vorbeiführend, Auszüge aus Vernehmungsprotokollen der Augenzeugen und aus den Abschiedsbriefen hören. Nochmals: zum S-Bahnhof Wannsee fahren, von dort Richtung Schiffsanleger, am Wannsee entlang, Königstraße überqueren, dort dann den nicht zu übersehenden Weg (Parcour) zum Kleistgrab nehmen. In der kleinen Anlage führt dann auch ein Weg vom Grab zum Kleinen Wannsee hinunter. (Alle Angaben ohne Gewähr! Bitte sich selbst nochmals informieren, wie eigentlich immer ...)
Kurz und sehr kursiv über Heinrich von Kleist
Seit 1807 lebte und arbeitete Heinrich von Kleist in Berlin. Hier veröffentlichte er seine wichtigsten Erzählungen und hier gab er die Berliner Abendblätter heraus – eine Zeitung mit Lokalnachrichten. Seine heute so berühmten literarischen Werke fanden zu Lebzeiten Kleists keine große Anerkennung, und der Dichter lebte in seinen letzten Lebensjahren beinahe mittellos. Fehlende Anerkennung seiner Kunst, finanzielle Not und traumatische Kriegserlebnisse mögen Gründe dafür gewesen sein, dass Kleist anscheinend mit der festen Absicht an den Kleinen Wannsee reiste, um sich selbst das Leben zu nehmen. In der an Gebärmutterkrebs erkrankten Henriette Vogel fand er eine Wegbegleiterin. Die letzten Stunden vor seinem Ausstieg aus dem Leben sollen laut Augenzeugenbericht folgendermaßen verlaufen sein: Am 20. November 1811 mieteten sich der Dichter und seine todkranke Freundin Henriette Vogel in dem Gasthof Stimmings Krug nahe dem Kleinen Wannsee ein. Sie bestellten Kaffee und verlangten Schreibzeug. Noch bis spät in die Nacht waren sie wach gewesen und schrieben Abschiedsbriefe, in denen sie ihren Selbstmord ankündigten. Ihre Absicht verrieten sie jedoch niemanden, wirkten auch nicht bedrückt, ganz im Gegenteil schienen sie vergnügt und sehr gut gelaunt auf die Anwesenden. (Heinrich von Kleist schrieb ja auch in seinem Abschiedsbrief, daß er in seinen letzten Stunden "zufrieden und heiter" gewesen war.) Am Nachmittag des 21. Novembers begaben sich Heinrich von Kleist und Henriette Vogel dann an den Kleinen Wannsee, ließen sich auch noch Tisch und Stühle bringen, bestellten erneut Kaffee und tranken ihn trotz der Novemberkälte im Freien. Kurze Zeit später fielen im Abstand von einigen Minuten zwei Schüsse. Der 34-jährige Heinrich von Kleist schoß erst seiner Begleiterin – auf ihren erklärten Wunsch hin – in die Brust und anschließend sich selbst in den Mund. Das ergab eine Obduktion der Leichen – unmittelbar gesehen hatte die Selbsttötung jedoch niemand.
Geboren wurde der Dichter Heinrich von Kleist in Frankfurt an der Oder (dort wird heute sehr aktiv sein Erbe verwaltet, präsentiert und gelebt -- Kulminationsort ist das dortige Kleist-Museum). Fast möchte ich sagen, im Laufe seines Lebens war er überall und nirgends zu Hause. Während seiner Lebenszeit galt er eher als Außenseiter, sowohl was seine Lebensgestaltung als auch was sein literarisches Schaffen anging. Die von ihm sicherlich erhoffte Anerkennung blieb zu seiner Lebenszeit weitgehend aus. Seine Dramen und Erzählungen handeln häufig von Katastrophen, Verbrechen sowie von tiefen gesellschaftlichen und moralischen als auch persönlichen Konflikten. Vergewaltigung, Mord, Rache, Suche nach Wahrheit und Wirklichkeit, sind demzufolge auch einige Motive in seinen Arbeiten. Wie seine literarischen Werke läßt sich, so man es will, auch sein Selbstmord in "heiterer" Stimmung als dramatisch und außergewöhnlich betrachten. Wie schrieb er doch, letztlich in Freude aber gewiß auch auf das Leben bezogen resignierend, im Abschiedsbrief an seine Halbschwester Ulrike von Kleist (der er innerlich sehr verbunden war!): "Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war." Und aus dieser Erkenntnis hatte er offenbar seine Konsequenz gezogen.
Wenn da einige Kleistbiographen Kleists Selbsttötung als "eine letzte Inszenierung" interpretieren, dann vermag ich dieser Einschätzung nicht zu folgen. Wenn dann noch überspitzt betont wird, dieser Selbstmord brachte ihm die Berühmtheit ein, die er im Leben nicht erlangen konnte, dürfte das schon eine sehr subjektive Projektion jener Autoren sein und mit Kleists tatsächlicher Einstellung und Haltung wenig oder gar nichts zu tun haben. Mag ja sein, daß -- wie eigentlich häufig -- bei Sensationen, Mord, Todschlag, Unglück, Unheil, eben dann auch: bei Suizid, die Volksseele "wach" wird, es in den Medien zu rauschen beginnt und man Spekulationen Tür und Tor öffnet. Heinrich von Kleist ging es aber höchstwahrscheinlich gerade bei jenem Abschied vom Leben nicht um eine Außenwirkung, sondern für ein von ihm in Würde zu gestaltendes Ende. Ich denke, er hat gerade da die Subjektivität, die eigentlich sein ganzes Leben in mehr oder weniger ausgeprägter Form ausgefüllt hat, in ganz besonderem Maße gelebt. Da sollte und könnte man doch etwas mehr gedankliche Anleihen an Kleists Prinz von Homburg nehmen ("Nun, O Unsterblichkeit, bist du ganz mein."), will man sich Kleists tatsächlicher Befindlichkeit und seinem Plan, sein eigenes Ende zu besiegeln, nähern können. Er hatte bekanntlich jene suizidalen Gedanken des öfteren in seinem Leben geäußert, suchte auch nachweislich wiederholt jemanden, der mit ihm dieses Ende gemeinsam beschreitet. Mit Henriette Vogel hat er diesen Menschen dann schließlich auch gefunden. Ich denke, daß Heinrich von Kleist sein Lebensende relativ oder gänzlich frei von narzißtischen Bedürfnissen gestaltet hat und es auch so gestalten konnte, in einer einzigen Verantwortung: der sich selbst gegenüber. Eine andere Sichtweise, eine andere Interpretation räumt der Kleistschen Umwelt beziehungsweise seinen "Zeit-Mitgenossen" mehr Bedeutung ein als sie Kleist zu diesem Zeitpunkt all jenen noch zuteil lassen werden wollte oder konnte. Vielleicht war es nur das: ein Sterben in reiner Egozentrik. Wenn schon eine Inszenierung, dann nur eine für sich selbst. Nicht mehr und nicht weniger ...
Fiktive Begegnungen mit Heinrich von Kleist
Heinrich von Kleist schreibt an Marie von Kleist: "Das Leben mit seinen zudringlichen immer wiederkehrenden Ansprüchen reißt zwei Gemüter schon in dem Augenblick der Berührung so vielfach auseinander, um wieviel mehr, wenn sie getrennt sind. An ein Näherrücken ist gar nicht zu denken, und alles, was man gewinnen kann, ist, daß man auf dem Punkt bliebt, wo man ist."
wird zur Zeit ausgearbeitet, Veröffentlichung hier demnächst. (ca. April / Mai 2023)
Was können wir von Heinrich von Kleist heute noch lernen? Was lehrt er uns?
Wird zur Zeit ausgearbeitet, Veröffentlichung hier demnächst. (ca. April / Mai 2023)
Kleists Leben, ein stimmiges Leben?
Wird zur Zeit ausgearbeitet, Veröffentlichung hier demnächst. (ca. April / Mai 2023)
Ein kleiner geistiger Parcour durch sein Schaffen ...
Anna Maria Carpi (Kleist. Ein Leben., Berlin, Insel Verlag 2011) zieht in ihrer Betrachtung über H.v.Kleists Leben und Wirken unter anderem folgenden Schluß: "Kleists Verzweiflung entsprang der Erkenntnis, daß es Menschen nicht gegeben ist, einander wirklich zu verstehen. Alle seine Geschöpfe gehen an Mißverständnissen zugrunde."
Wird zur Zeit ausgearbeitet, Veröffentlichung hier demnächst. (ca. April / Mai 2023)
Weshalb beschäftige ich mich mit Heinrich von Kleist so intensiv, dies immer wieder? Die Antwort ist eigentlich einfach zu geben: Ich finde sein Schaffen einzigartig, dies in einem positiven Sinn. Angefangen hat es jedoch, als ich in Jugendjahren auf sein Gedicht "Mädchenrätsel" und auf ein weiteres von ihm dann, nämlich "Die beiden Tauben", stieß. Diese beiden Gedichte sprachen mich sehr an, berührten mich. Wenig später wurde ich in der Schule mit seinem "Michael Kohlhaas" konfrontiert. Konfrontiert im wahrsten Sinn des Wortes: vor allem auch mit der Interpretation des Lehrers, der seine (selbstherrliche) Ansicht über den Inhalt zugleich als ein Ex-Cathedra-Dogma uns Schülern und Schülerinnen aufzuzwingen versuchte. Bei den meisten hat das auch funktioniert, bei mir nicht, denn ich spürte, in dem Stück geht es um etwas anderes als "nur" um ein Aufzeigen von Maßlosigkeit, von Uneinsichtigkeit, von Aufsässigkeit und die aus diesen Faktoren als negativ postuliert resultierenden "Auswüchse". Nein, ich war anderer Ansicht als jener Pädagoge, sah in der Novelle vielmehr auch das Diktum "Wehret den Anfängen!" durchscheinen. Verstärkt wurde ich in meiner Einschätzung noch mehr durch all die anderen Interpretationen des Kohlhaasschen Verhaltens, die aus meiner Sicht zumindest auf restaurativen Denkweisen, auf bürgerlichem "Michel-sei-schön-brav-und-ruhig-Denken", letztlich: auf Verkennung dessen, was Kleist wirklich mitteilen wollte, fußten. Kurz: Ich wurde richtig neugierig auf Kleist, wollte vor allem auch herausfinden, wer wirklich richtig lag mit seiner Auslegung: meine Wenigkeit, die allerdings sehr wohl einige, zwar wenige, Begleiter mit derselben Sichtweise hatte, oder aber die anderen, die aus (von mir so gefühlter) Herrscherperspektive alleine über "wahr" und "falsch", über "Recht" und "Unrecht" befinden wollten, oder aber auch jene Mitschüler, die ihr tumbes Mitläufertum pflegten. Da ich meine Kritik, mein Nichteinverstandensein, mit den "amtlichen" Vorgaben auch immer wieder in der einen oder anderen Form zeigte, wenngleich damals noch recht schüchtern, brachte mir das wenig Sympathien bei der Mehrheit, dafür aber auch viel Wohlwollen bei einer (letztlich auf die Quantität bezogen fast an einer Hand abzuzählenden) Minderheit ein. Was davon jedoch auch blieb: die Neugierde auf Kleist, die ich aber damals dann doch (aus heutiger Sicht: leider) nicht weiter verfolgte. Eigentlich sollte ich -- so der Wunsch des Elternhauses -- das Abitur machen, dann brav studieren, am besten für den Arztberuf oder für die Juristerei, weil das eben von gesellschaftlichem Prestige war, so die Meinung der damals (für eine dann doch begrenzte Zeit!) faktisch Bestimmenden. (Eine Offizierslaufbahn hätte bestimmt auch gefallen -- mir jedoch damals schon überhaupt nicht!) Da ich die Freiheit wollte, diese aber niemals umsonst zu bekommen war, verließ ich das Gymnasium vorzeitig -- Abschluß: Mittlere Reife hatte ich wenigstens, ging in den Ruhrpott und machte dort eine Lehre im Bergbau. Nicht daß ich Lust auf diese Arbeit, oder körperliche Arbeit überhaupt, gehabt hätte! Aber dort konnte ich sehr gut verdienen und meine Unabhängigkeit vom Elternhaus umfassend gestalten. Es gab nun kein "Solange du die Füße unter meinen Tisch stellst ..." mehr. Ich war frei vom Elternhaus, konnte mein Leben selbst voll finanzieren, jedoch gab es dann eben andere Zwänge, welche jedoch, zumindest für mich, leichter zu ertragen waren -- zumindest bis dann eine andere Zeit, eine andere Situation, ein anderes Denken und Fühlen mich erfaßten und ich erneut fand, "aufbrechen" zu müssen. Während meiner Bergbaulehre, die ich mit dem Knappenbrief abschloß, las ich sehr viel, spürte daß ich nicht eine allzu lange Zeit im Pütt verbringen möchte und dies auch nicht werde. So fing ich an, mich neben der Arbeit auch auf den Zweiten Bildungsweg zu begeben. Ich merkte damals: ich wollte doch das Abitur, doch auch studieren, dies aber weiterhin in: Unabhängigkeit vom Elternhaus. Einige Jahre später fand ich dann mein diesbezüglich endgültiges Ziel: ich werde noch das Bayerische Begabtenabitur ansteuern. Das machte ich auch konsequent, neben meiner Berufstätigkeit als Fachlehrer für Englisch (diesen Abschluß hatte ich mittlerweile in Bayern erworben, neben diversen Sprachzertifkaten, darunter u.a. das Cambridge Certificate of Proficiency). Und zu jenem Abitur war auf dem Gebiet die Auswahl eines Dichters als Spezialgebiet obligatorisch. Da erinnerte ich mich wieder an Heinrich von Kleist; mir war klar: mit dem werde ich mich beschäftigen, mit keinem anderen. Der "Michael Kohlhaas" wurde wieder mehr als lebendig, die beiden Täubchen flogen, die Mädchenrätsel vagabundierten, die Träume zogen, die Diskrepanz von Wunsch und Wirklichkeit zerrte immer wieder, Erkennen ward als relative Dimension gezimmert und es war auch unübersehbar: alles fließt ... Es ist sicherlich auch ein kleines Stück "Nostalgie", was mich seither fortwährend mit Kleist beschäftigen läßt (immerhin war er ein durchaus wesentlicher Teil meiner Abituranstrengungen!): aber überwiegend dürfte es seine einzigartige Klasse als Dichter und Suchender sein, die mich fesselt(e), jemand, der stets wirklich auf dem Weg war, nicht das ruhige Mitschwimmen in der Masse, in der Gewöhnlichkeit, zum billigen Lebenselixier erkoren hatte, sondern ein Mensch, der den Aufbruch suchte, das Werden, das wahre Sein ...
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Ein weiterer Blick in Heinrich von Kleists Wünschen, Denken, Leben und Sterben nun an dieser Stelle:
"Ich hoffe auf etwas Gutes, doch bin ich auf das Schlimmste gefaßt."
(Heinrich von Kleist an Karoline von Schlieben, aus Paris am 18. Juli 1801)
"(...) Eine solche sklavische Hingebung in die Launen des Tyrannen Schicksal, ist nun freilich eines freien, denkenden Menschen höchst unwürdig. Ein freier, denkender Mensch bleibt da nicht stehen, wo der Zufall ihn hinstößt; oder wenn er bleibt, so bleibt er aus Gründen, aus Wahl des Bessern. Er fühlt, daß man sich über das Schicksal erheben könne, ja, daß es im richtigen Sinne selbst möglich sei, das Schicksal zu leiten. Er bestimmt nach seiner Vernunft, welches Glück für ihn das höchste sei, er entwirft sich seinen Lebensplan, und strebt seinem Ziele nach sicher aufgestellten Grundsätzen mit allen seinen Kräften entgegen. Denn schon die Bibel sagt, willst du das Himmelreich erwerben, so lege selbst Hand an.
So lange ein Mensch noch nicht im Stande ist, sich selbst einen Lebensplan zu bilden, so lange ist und bleibt er unmündig, er stehe nun als Kind unter der Vormundschaft seiner Eltern oder als Mann unter der Vormundschaft des Schicksals. Die erste Handlung der Selbständigkeit eines Menschen ist der Entwurf eines solchen Lebensplans. Wie nötig es ist, ihn so früh wie möglich zu bilden, davon hat mich der Verlust von sieben kostbaren Jahren, die ich dem Soldatenstande widmete, von sieben unwiederbringlich verlornen Jahren, die ich für meinen Lebensplan hätte anwenden gekonnt, wenn ich ihn früher zu bilden verstanden hätte, überzeugt.
Ein schönes Kennzeichen eines solchen Menschen, der nach sichern Prinzipien handelt, ist Konsequenz, Zusammenhang, und Einheit in seinem Betragen. Das hohe Ziel, dem er entgegenstrebt, ist das Mobil aller seiner Gedanken, Empfindungen und Handlungen. Alles, was er denkt, fühlt und will, hat Bezug auf dieses Ziel, alle Kräfte seiner Seele und seines Körpers streben nach diesem gemeinschaftlichen Ziele. Nie werden seine Worte seinen Handlungen, oder umgekehrt, widersprechen, für jede seiner Äußerungen wird er Gründe der Vernunft aufzuweisen haben. Wenn man nur sein Ziel kennt, so wird es nicht schwer sein die Gründe seines Betragens zu erforschen. (...)"
(Heinrich von Kleist an Ulrike von Kleist, Frankfurt a.d. Oder, Mai 1799)
" (...) Von mir kann ich Ihnen nur so viel sagen, daß ich wenigstens ein Jahr hier bleiben werde, das Studium der Naturwissenschaft auf dieser Schule der Welt fortzusetzen. Wohin ich dann mich wenden werde, und ob der Wind des Schicksals noch einmal mein Lebensschiff nach Dresden treiben wird? - Ach, ich zweifle daran. Es ist wahrscheinlich, daß ich nie in mein Vaterland zurückkehre. In welchem Weltteile ich einst das Pflänzchen des Glückes pflücken werde, und ob es überhaupt irgendwo für mich blüht -? Ach, dunkel, dunkel ist das alles. - Ich hoffe auf etwas Gutes, doch bin ich auf das Schlimmste gefaßt. Freude gibt es ja doch auf jedem Lebenswege, selbst das Bitterste ist doch auf kurze Augenblicke süß. Wenn nur der Grund recht dunkel ist, so sind auch matte Farben hell. Der helle Sonnenschein des Glücks, der uns verblendet, ist auch nicht einmal für unser schwaches Auge gemacht. Am Tage sehn wir wohl die schöne Erde, doch wenn es Nacht ist, sehn wir in die Sterne - -
Und soll ich diesen Brief schließen, ohne Sie mit meiner ganzen Seele zu begrüßen? O möchte Ihnen der Himmel nur ein wenig von dem Glücke schenken, von dem Sie so viel, so viel verdienen. Auf die Erfüllung Ihrer liebsten Wünsche zu hoffen, zu hoffen -? Ja, immerhin. Aber sie zu erwarten -? Ach, liebe Freundin, wenn Sie sich Tränen ersparen wollen, so erwarten Sie wenig von dieser Erde. Sie kann nichts geben, was ein reines Herz wahrhaft glücklich machen könnte. Blicken Sie zuweilen, wenn es Nacht ist, in den Himmel. Wenn Sie auf diesem Sterne keinen Platz finden können, der Ihrer würdig ist, so finden Sie vielleicht auf einem andern einen um so bessern.
Und nun leben Sie wohl - der Himmel schenke Ihnen einen heitern, frischen Morgen, - einen Regenschauer in der Mittagshitze, - und einen stillen, kühlen sternenklaren Abend, an welchem sich leicht und sanft einschlafen läßt."
(Heinrich von Kleist an Karoline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801)
" (...) Liebe Wilhelmine, laß mich reisen. Arbeiten kann ich nicht, das ist nicht möglich, ich weiß nicht zu welchem Zwecke. Ich müßte, wenn ich zu Hause bliebe, die Hände in den Schoß legen, und denken. So will ich lieber spazieren gehen, und denken. Die Bewegung auf der Reise wird mir zuträglicher sein, als dieses Brüten auf einem Flecke. Ist es eine Verirrung, so läßt sie sich vergüten, und schützt mich vor einer andern, die vielleicht unwiderruflich wäre. Sobald ich einen Gedanken ersonnen habe, der mich tröstet, sobald ich einen Zweck gefaßt habe, nach dem ich wieder streben kann, so kehre ich um, ich schwöre es Dir. Mein Bild schicke ich Dir, und Deines nehme ich mit mir. Willst Du es mir unter diesen Bedingungen erlauben? Antworte bald darauf Deinem treuen Freunde Heinrich.
N. S. Heute schreibe ich Ulriken, daß ich wahrscheinlich, wenn Du es mir erlaubst, nach Frankreich reisen würde. Ich habe ihr versprochen, nicht das Vaterland zu verlassen, ohne es ihr vorher zu sagen. Will sie mitreisen, so muß ich es mir gefallen lassen. Ich zweifle aber, daß sie die Bedingungen annehmen wird. Denn ich kehre um, sobald ich weiß, was ich tun soll. Sei ruhig. Es muß etwas Gutes aus diesem innern Kampfe hervorgehn."
(Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, Berfin am 22. März 1801)
"(...) Mit welchen Empfindungen ich Mainz wiedererblickte, das ich schon als Knabe einmal sah – wie ließe sich das beschreiben? Das war damals die üppigste Sekunde in der Minute meines Lebens! Sechzehn Jahre, der Frühling, die Rheinhöhen, der erste Freund, den ich soeben gefunden hatte, und ein Lehrer wie Wieland, dessen »Sympathien« ich damals las – War die Anlage nicht günstig, einen großen Eindruck tief zu begründen?
Warum ist die Jugend die üppigste Zeit des Lebens? Weil kein Ziel so hoch und so fern ist, das sie sich nicht einst zu erreichen getraute. Vor ihr liegt eine Unendlichkeit – Noch ist nichts bestimmt, und alles möglich – Noch spielt die Hand, mutwillig zögernd, mit den Losen in der Urne des Schicksals, welche auch das große enthält – warum sollte sie es nicht fassen können? Sie säumt und säumt, indem schon die bloße Möglichkeit fast ebenso wollüstig ist, wie die Wirklichkeit – Indessen spielt ihr das Schicksal einen Zettel unter die Finger – es ist nicht das große Los, es ist keine Niete, es ist ein Los, wie es Tausende schon getroffen hat, und Millionen noch treffen wird.
Damals entwickelten sich meine ersten Gedanken und Gefühle. In meinem Innern sah es so poetisch aus, wie in der Natur, die mich umgab. Mein Herz schmolz unter so vielen begeisternden Eindrücken, mein Geist flatterte wollüstig, wie ein Schmetterling über honigduftende Blumen, mein ganzes Wesen ward fortgeführt von einer unsichtbaren Gewalt, wie eine Fürsichblüte von der Morgenluft – Mir wars, als ob ich vorher ein totes Instrument gewesen wäre, und nun, plötzlich mit dem Sinn des Gehörs beschenkt, entzückt würde über die eignen Harmonieen. – (...)"
(Heinrich von Kleist an Adolfine von Werdeck, Paris am 28. / 29. Juli 1801)
"Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine aufeinmal einstürzen wollen - u ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, der mir bis zu dem entscheidenden Augenblicke immer mit der Hoffnung zur Seite stand, daß auch ich mich halten würde, wenn Alles mich sinken läßt."
(An Wilhelmine von Zenge; Berlin, 16. November 1800)
"Die Nothwendigkeit, eine Rolle zu spielen, und ein innerer Widerwillen dagegen machen mir jede Gesellschaft lästig, u froh kann ich nur in meiner eignen Gesellschaft sein, weil ich da ganz wahr sein darf."
(Heinrich von Kleist an Ulrike von Kleist; Berlin, 5. Februar 1801)
"Denn nichts ist dem Interesse so zuwider als Einförmigkeit, und nichts ihm dagegen so günstig, als Wechsel und Neuheit."
(Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, etwa Frühjahr bis Sommer 1880)
Heinrich von Kleist begründet diese Aussage und grenzt "Wechsel und Neuheit" dadurch entsprechend ein, befördert die Trennschärfe des Gedankens: " Daher macht uns das Reisen so vieles Vergnügen, weil mit den immer wechselnden Standorten auch die Ansichten der Natur immer wechseln, und daher hat überhaupt das Leben ein so hohes, ja das höchste Interesse, weil es gleichsam eine große Reise ist und weil jeder Augenblick etwas Neues herbeiführt, uns eine neue Ansicht zeigt oder eine neue Aussicht eröffnet."
"Ein freier, denkender Mensch bleibt nicht da stehen, wo der Zufall ihn hinstößt; oder wenn er bleibt, so bleibt er aus Gründen, aus Wahl des Bessern."
(Heinrich von Kleist an Ulrike von Kleist, Frankfurt / Oder im Mai 1799)
"Ach, es muß öde und leer und traurig sein, später zu sterben, als das Herz."
(Heinrich von Kleist an Karoline von Schlieben, aus Paris am 18. Juli 1801)
"Was ist wünschenswerther, auf eine kurze Zeit, oder nie glücklich gewesen zu sein?"
(Heinrich von Kleist in den 'Denkübungen' für Wilhelmine von Zenge, Sommer 1800)
"... ach, es ist so traurig, weiter nichts, als gelehrt zu sein."
(Heinrich von Kleist, Brief an Ulrike von Kleist, 1801)
"... und Erfindung ist es überall was ein Werk der Kunst ausmacht."
(Heinrich von Kleist an Marie von Kleist, Juni 1807)
"Ach, Wilhelmine, schenke mir der Himmel ein grünes Haus, ich gäbe alle Reisen, und alle Wissenschaft, und allen Ehrgeiz auf immer auf!"
(Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, 9.4.1801)
"Denn nicht durch Worte aber durch Handlungen zeigt sich wahre Treue und wahre Liebe."
(Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, Anfang 1800)
"... ich dichte bloß, weil ich es nicht lassen kann."
(Heinrich von Kleist an Otto August Rühle von Liliensstern, August 1806)
"Aber -- kehren uns nicht alle irrdischen Gegenstände ihre Schattenseiten zu, wenn wir in die Sonne sehen -- ?"
(Heinrich von Kleist an Adolphine von Werdeck, Juli 1801)
"Aber Hoffnung muß bei den Lebenden sein."
(Heinrich von Kleist an Ulrike von Kleist, Juli 1809)
"Denn nicht das, was dem Sinn dargestellt ist, sondern das, was das Gemüt, durch diese Wahrnehmung erregt, sich denkt, ist das Kunstwerk."
(Heinrich von Kleist an Marie von Kleist, Juni 1807)
"Die schöne, große edle, erhabene Natur, die Schätze von Kunstwerken der Frühlingssonne, und so viel Wohlwollen --"
(Heinrich von Kleist an Karoline von Schlieben, Juli 1801)
"Ach, es muß öde und leer und traurig sein, später zu sterben, als das Herz."
(Heinrich von Kleist an Karoline von Schlieben, aus Paris am 18. Juli 1801)
"... ich erkenne nur ein höchstes Gesetz an, die Rechtschaffenheit, und die Politik kennt nur ihren Vorteil."
(Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, April / Mai 1800)
"... und so rollt doch dieser Planet immer noch freundlich durch den Himmelsraum, u die Frühlinge wiederholen sich ..."
(Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, August 1801)
Heinrich von Kleist hatte eine Umschrift von Goethes Gedicht "Über allen Wipfeln ist Ruh" vorgenommen:
Unter allen Zweigen ist Ruh,
In allen Wipfeln hörest du
Keinen Laut.
Die Vögelein schlafen im Walde,
Warte nur, balde
Schläfest du auch.
"Ach, Wilhelmine, welch ein unsägliches Glück mag in dem Bewußtsein liegen, seine Bestimmung ganz nach dem Willen der Natur zu erfüllen!"
(Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, 10. 10. 1801)
"Ach, liebe Ulrike, ich passe mich nicht unter die Menschen, es ist eine traurige Wahrheit, aber eine Wahrheit; und wenn ich den Grund ohne Umschweif angeben soll, so ist es dieser: sie gefallen mir nicht. Ich weiß wohl, daß es bei dem Menschen, wie bei dem Spiegel, eigentlich auf die eigne Beschaffenheit beider ankommt, wie die äußern Gegenstände darauf einwirken sollen; und mancher würde aufhören über die Verderbtheit der Sitten zu schelten, wenn ihm der Gedanke einfiele, ob nicht vielleicht bloß der Spiegel, in welchen das Bild der Welt fällt, schief und schmutzig ist. Indessen wenn ich mich in Gesellschaften nicht wohl befinde, so geschieht dies weniger, weil andere, als vielmehr weil ich mich selbst nicht zeige, wie ich es wünsche. Die Notwendigkeit, eine Rolle zu spielen, und ein innerer Widerwillen dagegen machen mir jede Gesellschaft lästig, und froh kann ich nur in meiner eignen Gesellschaft sein, weil ich da ganz wahr sein darf. Das darf man unter Menschen nicht sein, und keiner ist es – Ach, es gibt eine traurige Klarheit, mit welcher die Natur viele Menschen, die an dem Dinge nur die Oberfläche sehen, zu ihrem Glücke verschont hat. Sie nennt mir zu jeder Miene den Gedanken, zu jedem Worte den Sinn, zu jeder Handlung den Grund – sie zeigt mir alles, was mich umgibt, und mich selbst in seiner ganzen armseligen Blöße, und dem Herzen ekelt zuletzt vor dieser Nacktheit – – Dazu kommt bei mir eine unerklärliche Verlegenheit, die unüberwindlich ist, weil sie wahrscheinlich eine ganz physische Ursache hat. Mit der größten Mühe nur kann ich sie so verstecken, daß sie nicht auffällt – o wie schmerzhaft ist es, in dem Äußern ganz stark und frei zu sein, indessen man im Innern ganz schwach ist, wie ein Kind, ganz gelähmt, als wären uns alle Glieder gebunden, wenn man sich nie zeigen kann, wie man wohl möchte, nie frei handeln kann, und selbst das Große versäumen muß, weil man vorausempfindet, daß man nicht standhalten wird, indem man von jedem äußern Eindrucke abhängt und das albernste Mädchen oder der elendeste Schuft von Elegant uns durch die matteste Persiflage vernichten kann. – Das alles verstehst Du vielleicht nicht, liebe Ulrike, es ist wieder kein Gegenstand für die Mitteilung, und der andere müßte das alles aus sich selbst kennen, um es zu verstehen."
(Heinrich von Kleist an Ulrike von Kleist, 08. 02. 1801)
"Meine liebste Marie, wenn Du wüßtest, wie der Tod und die Liebe sich abwechseln, um diese letzten Augenblicke meines Lebens mit Blumen, himmlischen und irdischen, zu bekränzen, gewiß Du würdest mich gern sterben lassen. Ach, ich versichre Dich, ich bin ganz selig. Morgens und abends knie ich nieder, was ich nie gekonnt habe, und bete zu Gott; ich kann ihm mein Leben, das allerqualvollste, das je ein Mensch geführt hat, jetzo danken, weil er es mir durch den herrlichsten und wollüstigsten aller Tode vergütigt. Ach, könnt ich nur etwas für Dich tun, das den herben Schmerz, den ich Dir verursachen werde, mildern könnte! Auf einen Augenblick war es mein Wille mich malen zu lassen; aber alsdann glaubte ich wieder zuviel Unrecht gegen Dich zu haben, als daß mir erlaubt sein könnte vorauszusetzen, mein Bild würde Dir viel Freude machen. Kann es Dich trösten, wenn ich Dir sage, daß ich diese Freundin niemals gegen Dich vertauscht haben würde, wenn sie weiter nichts gewollt hätte, als mit mir leben? Gewiß, meine liebste Marie, so ist es; es hat Augenblicke gegeben, wo ich meiner lieben Freundin, offenherzig, diese Worte gesagt habe. Ach, ich versichre Dich, ich habe Dich so lieb, Du bist mir so überaus teuer und wert, daß ich kaum sagen kann, ich liebe diese liebe vergötterte Freundin mehr als Dich. Der Entschluß, der in ihrer Seele aufging, mit mir zu sterben, zog mich, ich kann Dir nicht sagen, mit welcher unaussprechlichen und unwiderstehlichen Gewalt, an ihre Brust; erinnerst Du Dich wohl, daß ich Dich mehrmals gefragt habe, ob Du mit mir sterben willst? – Aber Du sagtest immer nein – Ein Strudel von nie empfundner Seligkeit hat mich ergriffen, und ich kann Dir nicht leugnen, daß mir ihr Grab lieber ist als die Betten aller Kaiserinnen der Welt. – Ach, meine teure Freundin, möchte Dich Gott bald abrufen in jene bessere Welt, wo wir uns alle, mit der Liebe der Engel, einander werden ans Herz drücken können. – Adieu."
(Heinrich von Kleist an Marie von Kleist, Stimmings 'Krug' bei Potsdam 21. 11. 1811)
Wer einst an den Brüsten des Glückes den goldnen Traum des Lebens träumte, der streckt zwar, wenn ihn das Schicksal mit rauher Stimme weckt, wehmütig die Arme aus nach den göttlichen Gestalten, die nun auf immer entfliehen, und sein Schmerz ist um so größer, je größer das Glück war, dessen er genoß; aber ihm ist doch aus dem Füllhorne des Segens, das von oben herab sich öffnet, auch ein Blümchen zugefallen, das ihn selbst in der Erinnerung noch erfreuen kann, wenn es gleich längst verblüht ist. Ihm sind doch die Ansprüche, die er
an dies Leben zu machen hatte, nicht ganz unerfüllt geblieben, nicht mit allen seinen Forderungen ist er von der großen Erbschaft abgewiesen worden, welche der Himmel den Kindern der Erde vermacht hat, nicht murren wird er mit dem Vater der Menschen, der ihn von seiner Liebe nicht ausschloß, nicht mit bitterm Groll seine Geschwister beneiden, die mit ihm nur zu gleichen Teilen gingen, nicht zürnen auf den Genuß seines Glückes, weil er nicht ewig währte, so wie man dem Frühlinge nicht zürnt, weil er kurz ist, und den Tag nicht verwünscht, weil ihn die Nacht ablöset. Mutiger und sicherer als wenn er nie auf hellen Pfaden gewandelt wäre, wird er nun auch die dunkeln Wege seines Lebens durchwandeln und in der Erinnerung zuweilen mit wehmütiger Freude die bemoosten Ruinen seines ehemaligen Glückes besuchen, um das Herbstblümchen der Weisheit zu pflücken.
(H.v.Kleist, aus seinen "Denkübungen" für Wilhelmine von Zenge)
Bei seinen "Denkübungen" für seine Verlobte hatte Heinrich von Kleist
Fragen gestellt, die sie beantworten sollte, darunter auch folgende:
1. Darf man jeden irrigen Grundsatz anderer Menschen bekämpfen, oder muß man nicht unschädliche Grundsätze dulden und ehren, wenn an ihnen die Ruhe eines Menschen hangt?
2. Darf man wohl von einem Menschen immer mit unerbittlicher Strenge die Erfüllung seiner Pflichten verlangen, oder kann man nicht schon mit ihm zufrieden sein, wenn er seine Pflichten nur immer anerkennt und den guten Willen, sie zu erfüllen, nie verliert?
3. Darf der Mensch wohl alles tun, was recht ist, oder muß er sich nicht damit begnügen, daß nur alles recht sei, was er tut?
4. Darf man sich in dieser Welt wohl bestreben, das Vollkommene wirklich zu machen, oder muß man sich nicht begnügen, nur das Vorhandne vollkommner zu machen?
5. Was ist besser, gut sein oder gut handeln?
Aus dem Brief vom 11. und 12. Januar 1801 an Wilhelmine von Zenge , geschrieben in Berlin, gab Heinrich von Kleist ihr am Schluß seines Schreibens
"noch einige Nüsse zum Knacken" auf:
1. Wenn die Flamme sich selbst den Zugwind verschafft und so immer höher herauflodert, inwiefern ist sie mit der Leidenschaft zu vergleichen?
2. Wenn der Sturm kleine Flammen auslöscht, große aber noch größer macht, inwiefern ist er mit dem Unglück zu vergleichen?
3. Wenn du den Nebel siehst, der andere Gegenstände verhüllt, aber nicht den, der Dich selbst umgibt, womit ist das zu vergleichen?
Heinrich von Kleist hatte eine Skepsis der Sprache gegenüber insofern, als der der Ansicht war, mit Sprache allein könne man sich eben nicht ganzheitlich mitteilen; Sprache könne die Seele nicht umfassend mitteilen, könne Empfindungen nur sehr verkürzt (und damit Mißverständnissen Tür und Tor öffnend) zeichnen. Um dieses sprachliche Dilemma wenigstens etwas zu beheben, bediente sich Kleist sehr umfangreich der Interpunktion (z.B. hatten bei ihm Gedankenstrich und Semikolon eine wesentliche Funktion) sowie der körperlichen Ausdrucksformen wie beispielsweise der Ohnmacht und Schweigen. Es mag sich für manchen die Frage stellen, weshalb überhaupt jemand mit einer derartigen Sprachskepsis dann sich der Schriftstellerei zuwendet. Nun, für Kleists Entscheidung, dennoch als Dichter tätig zu sein, ist das relativ einfach zu erklären:
Erstens fand er in seinen Bemühungen, in bürgerlichen Berufen Fuß zu fassen (z.B. Militär, Verwaltung) keine Befriedigung, somit kein gesichertes Einkommen. Mit dem Dichten "hatte er schließlich gefunden, was er suchte, in dem sicheren Gefühl, das es wirklich das war, was er konnte und was ihm Erfüllung bringen würde: 'ich dichte bloß, weil ich es nicht lassen kann.' [Das schriftstellerische Tun] war nicht trennbar von der Notwendigkeit, Geld zu verdienen, um überhaupt dichten zu können. Konsequenter als die meisten anderen deutschen Dichter seiner Generation -- Hölderlin, Novalis, Fouqué, Armin, Brentano, Eichendorff -- bezeichnete sich Kleist als Berufsschriftsteller; ganz unverblümt gestand er Rühle (=Johann Jakob Otto August Rühle von Lilienstern, ein Generalleutnant, ein Freund aus gemeinsamer Potsdamer Zeit, d.V. ) auch ein, daß er zugleich um des Gelderwerbes willen schrieb." (Gerhard Schulz, Kleist. Eine Biographie, Beck Verlag München 2007, S. 295f.) Allerdings schielte Kleist da nicht auf das, was man heute als Mainstream sowie Marktbedürfnisse bezeichnet: entsprechend litt er auch immer wieder an Geldmangel (zumal ihn seine Verwandtschaft trotz zahlreicher Hilfeersuche auch nicht unterstützte).
Dieses Problem Kleists hebt G. Schulz besonders hervor: "Nur war seine Ware von einer Art und Qualität, die allzu wenige Abnehmer fand (man denke nur an das Schicksal seiner zusammen mit Adam Heinrich Müller herausgegebenen Literaturzeitschrift Phoebus, an Goethes wirklich verkorkste Inszenierung von Kleists "Der zerbrochene Krug" in Weimar, Anmerkung d.V.), denn bei dem, was er schreiben mußte, weil er es nicht lassen konnte, fragte er nicht, ob es gefällig sei, obwohl er es gewiß glaubte." (Schulz, ebd. S. 296)
Was letztlich für Kleist selbst ein Problem war und zunehmend wurde, eben: die finanzielle Absicherung, ehrt jedoch ihn für seine Standhaftigkeit, er hing seinen Mantel, ganz im Gegensatz zu vielen anderen künstlerisch Schaffenden damals (und heute vor allem!!!) nicht in den Wind ...
Zweitens besaß Kleist (oder entwickelte) eine schriftstellerische Technik (s.o.), mit der sprachliche Mängel kompensiert, zumindest etwas minimiert, werden konnten; auf diese Weise verstand er es eben, mit sprachlichen Unzulänglichkeiten hinsichtlich ganzheitlicher und umfassender Schilderungen des Menschen, des jeweiligen Charakters eines Stückes oder einer Erzählung umzugehen. Er hat es also verstanden, trotz sprachimmanenter Reduktion der Wirklichkeit, der Empfindungen, durch Ergänzung mit anderen stilistischen Mitteln für ihn dann stimmige Ausdrucksformen resp. Gestalten zu schaffen. Das kann man in allen seinen Werken aufzeigen. Zum Beispiel auch an Hand der Novelle "Die Marquise von O".
In einer sehr beachtenswerten -- vor allem weil äußerst umfangreich gestaltet und von kritischer Recherche getragen! -- Arbeit hat Petra Salzer am Beispiel von Kleists Novelle "Marquise von O" die schriftstellerische Arbeitstechnik des Dichters aufgezeigt. (vgl.: Petra Salzer, Körper und Sprache in Kleists Marquise von O, Diplomarbeit Universität Wien, August 2011) Ihre Vorgehensweise und Ergebnisse lassen sich im der Diplomarbeit nachgestellten Abstract sehr gut erkennen: "Heinrich von Kleist drückt in seinen Briefen und Texten explizit und implizit seinen Zweifel an den Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache aus. Untersucht man seine Erzählung Die Marquise von O... unter diesem Aspekt, so fällt schnell auf, dass auch hier Vieles ungesagt bleibt, dass die Figuren sich mit den Mitteln der Sprache nicht vollständig ausdrücken können. Stattdessen übernimmt der Körper diese Aufgabe, indem er zum Beispiel auf die Schwangerschaft der Marquise und somit auf die zuvor erfolgte Vergewaltigung durch den Grafen hinweist. Eine genaue Untersuchung des Textes in Hinblick auf die Zeichen des Körpers zeigt, dass Kleist vor allem mit äußeren Bewegungen arbeitet und uns in das Innere der Figuren kaum Einblick gewährt. Doch obwohl der Körper in dieser Erzählung Vieles kann, kann er doch nicht die Unklarheiten beseitigen, die vor allem um die Vergewaltigung und um die Gefühle der Marquise dem Grafen gegenüber bestehen. Was bleibt, ist eine ständige Ambivalenz: Die Marquise ist Opfer einer Vergewaltigung geworden, kann aber aus eigener Kraft ihr schreckliches Schicksal überwinden. Der Graf changiert zwischen Teufel und Engel, zwischen Täter und reuevollem Sünder. Auf der anderen Seite stehen die Satzzeichen und die besondere Form der Kleistschen Sprache: Der Text geht scheinbar über von Strichen, Semikolons, Beistrichen und Doppelpunkten. Wie lässt sich diese Vielfalt damit vereinbaren, dass Kleist der Sprache ohnehin keine vollständige Ausdruckskraft zugestehen wollte? Die Lösung liegt scheinbar in der Verringerung: Ein abgebrochener Satz kann manchmal mehr sagen, als ein zu Ende gebrachter und ein O... beinhaltet eine ganze Fülle an möglichen Interpretationen, die ein vollständiger Name nie hervorrufen könnte. Bei genauer Betrachtung der Figuren eröffnet sich außerdem eine facettenreichere Einstellung zum Thema Sprachkritik: Während manche Figuren diese scheinbar mit ihrem Erfinder teilen, vertreten andere die genau gegenteilige Seite. Schließlich müssen jedoch beide Ausdrucksmöglichkeiten – die Sprache und der Körper – trotz der Fülle an Informationen, die sie transportieren, uneindeutig bleiben. Sie ergänzen sich gegenseitig und setzen ein, wo der andere verstummt, doch auch gemeinsam müssen sie ein unvollständiges Bild hinterlassen." (Petra Salzer, a.a.O., S. 107f.)
Die Erzählung "Die Marquise von O ..." handelt von einem Verbrechen: die Marquise wurde vergewaltigt. Von wem? Wie? Wo? All das wird erst allmählich im Laufe der Geschichte enthüllt, je nach Naturell und Phantasie des Lesers dem einen früher (sprich: durch Vermutung, die sich allmählich zu weiterer Erkenntnis verfestigt), dem anderen vielleicht gar erst gegen Schluß der Novelle. Gegen Ende der Erzählung spätestens wissen dann alle Bescheid, auch wird die Antwort geliefert, wie mit alledem umzugehen ist, wie damit umgegangen werden kann. Manchem mag es mehr als fragwürdig erscheinen, daß Täter und Opfer später eine glückliche, kinderreiche Ehe führen, weil so ein Ergebnis nicht unserer allgemeinen Vorstellung vom Lauf der Dinge entsprechen dürfte. Aber bei Kleist war es schon immer ein Thema gewesen, Realität durch Aspekte kognitiver Dissonanzen zu durchleuchten, damit irgendwie auch: zu relativieren. Jedoch an keiner Stelle der Erzählung findet (bis zu dem Zeitpunkt gegen Ende der Novelle eine allmähliche Aufklärung erfolgt) die kriminelle Tat Erwähnung, keine zielführende Indizien werden genannt. Das einzige Indiz ist eben, daß der Marquise etwas widerfahren ist, sie ist in anderen Umständen. Die Sprache allein "enthüllt" also nichts, was eindeutig, was vollständig, was umfassend, auf die Tat verweisen könnte, zumindest nicht genug, nichts Hinreichendes. Wir begegnen hier einmal mehr der Kleistschen Vorstellung über die Mängel der Sprache, Wirklichkeit umfassend erklären zu können. Deshalb ergänzt Kleist die Sprache mit weiteren Mitteln, um für sich zu einem besseren Zugang zum Ausdruck von Wirklichkeit zu gelangen.
Auf diesen Umstand verweist Petra Salzer: "Kleist billigt also offensichtlich der Sprache kein uneingeschränktes Recht zu, was auch am Sprachverhalten der Figuren erkennbar ist: Immer wieder brechen sie Sätze ab, es vergeht ihnen die Sprache oder sie fordern andere Figuren zum Schweigen auf. Nicht zuletzt das Erscheinungsbild des Textes zeigt den ungewöhnlichen, fast gewaltgeladenen Umgang mit der Sprache: Der Text ist von Strichen durchsetzt und wird von Semikolons und Doppelpunkten abgebremst Die Körper der Figuren haben aber im Gegensatz dazu ein scheinbar endloses Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten: Sie fallen in Ohnmacht oder jemandem zu Füßen, sie erröten oder erblassen und zeigen mit „convulsivischen Bewegung[en]“ ihre Befindlichkeiten an. Warum erlaubt Kleist dem Körper eine Zeichenhaftigkeit, die er der Sprache untersagt bzw. in der er sie beschneidet? Andrea Bartl untersucht Kleists Sprachskepsis als Teil einer allgemeinen Sprachkrise der deutschen Literatur um 1800 und bemerkt (ebenso wie z. B. Dieter Heimböckel und Anthony Stephens, dass es vor allem seine Briefe sind, in denen er offen von der Unmöglichkeit spricht, sein Innerstes mit Worten auszudrücken: Und gern möchte ich Dir Alles mittheilen, wenn es möglich wäre. Aber es ist nicht möglich, u. wenn es auch kein weiteres Hinderniß gäbe, als dieses, daß es uns an einem Mittel zur Mittheilung fehlt. Selbst das einzige, das wir besitzen, die Sprache taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht mahlen u. was sie uns giebt sind nur zerrissene Bruchstücke." (Salzer, a.a.O., S. 1f.)
Der Körper, die durch ihn gezeigten jeweiligen Erscheinungs- und Ausdrucksformen, ist für Kleist schriftstellerisches Mittel, Gedanken, Gefühle und Umgang mit Gegenwärtigem aufzuzeigen, also ergänzend zur Sprache zu wirken. Salzer zitiert Max Kommerell, der Kleist als einen "Dichter, der mit den Mitteln der Sprache in Gebärden dichtet" beschreibt und "anstatt über Gefühle zu berichten, macht [Kleist] sie angeblich lieber am Körper und in den Körperbewegungen sichtbar, jedoch auch dies selten auf eindeutige Weise oder in einer Art, die das Innere der Figuren vollständig vor uns ausbreitet." Kommerell unterstellt Kleist deshalb eine "Lust am Geheimnis". (siehe: Salzer, S. 3) Das alles kann natürlich nicht darüber hinwegtäuschen -- ist ja eigentlich auch eine Selbstverständlichkeit --, daß die Sprache auch für Kleist das primäre Ausdrucksmittel in seiner Dichtkunst ist. Salzer verweist in diesem Zusammenhang auf Hans Heinz Holz, der eine widersprüchliche Situation in Kleists dichterischem Schaffen zu sehen glaubt: "Das versagende Sprechen muß durch sprachliche Mittel selbst sein Scheitern kundtun, wenn es Dichtung bleiben will. Kleist stand also vor der Aufgabe, das Versagen der Sprache und ihre Aufhebung in der Sprache selbst und als Sprache darzustellen, das heißt den Ausdruck für die Selbstentfaltung der Sprache zu finden." (ebd.)
Ich denke, hier wird über eine Selbstverständlichkeit eine Art von akademischer Spielerei betrieben; jede Darstellungsweise hat doch ihre conditio sine qua non, und diese ist eben in der Dichtkunst in erster Linie die Sprache, zu der natürlich diese ergänzend auch Ausdrucksmittel wie Interpunktion, Auslassungen (also damit auch: das Nichtsagen) und vage Andeutungen u.a.m. zählen. Wenn in diesem Zusammenhang darauf verwiesen wird, daß sichtbare Formen von körperlicher Ausdrucksweise beispielsweise dem Theater und dem Film "vorbehalten" bleiben, ist das selbstverständlich zutreffend; aber gerade für diese Ausdrucksformen werden entweder mehr oder weniger verbindliche sprachliche Handlungsanweisungen, wie man sich körperlich auszudrücken hat, vom Dichter angeregt resp. vorgegeben, an die man sich -- so die Praxis -- jedoch je nach Belieben hält oder auch nicht; Goethes Aufführung von Kleists Der zerbrochene Krug mag da als ein besonders negatives Beispiel an Abweichung von der eigentlichen dichterischen Intention sein oder aber in der heutigen Zeit ist es gang und gäbe, daß Regisseure und Intendanten in sehr eigenmächtiger und vielleicht sogar aus selbstherrlicher-narzißtischer Attitüde den Vorgaben der Dichter hinsichtlich Ausdrucksform -- sogar bis hin zu Abweichung in Sprachvorgaben (Stichwort: politische Korrektheit als Filter) -- nicht mehr entsprechen (wollen), sodaß, um bei Kleist zu bleiben, man in zahlreichen "modernistischen" Aufführungen der Stücke beispielsweise weniger Kleist und vielmehr den jeweiligen Regisseur auf der Bühne erlebt ... (erleben muß, sofern man derartige Theaterbesuche oder Filmaufführungen besser nicht gänzlich meidet ...)
Wird aber in Ergänzung reiner Textdarstellungen zusätzlich über Metaphern der Körper zum Sinnträger gemacht, dann stellt sich eben die Aufgabe: will ich das verstehen, was der Dichter tatsächlich damit ausdrücken möchte (also eine tiefergehende Analyse zum Verstehen dessen, was von ihm wirklich "gesagt", was "verdeutlicht" werden möchte, vornehmen; dies bedeutet dann allerdings ein besonders tiefes Eintauchen in des Dichters Denkweise, also auch eine extreme kontextuelle und supralinguistische Betrachtung, um zu einem zumindest weitgehend konkruenten Ergebnis mit des Dichters intention zu gelangen!) oder will man in einer Art des Scheinverstehens die eigene gedankliche Freiheit und das eigene Wirklichkeitsverständnis präsentieren, im negativsten Fall letztlich nur sich selbst profilieren ...
Wenn Kleist beispielsweise an seine Schwester Ulrike u.a. schreibt: "Ach, wie gern hätte ich Dich gesehen in dem stillen Werben, wie vieles hätte ich Dir mitteilen, wie manches von Dir lernen können – Ach, Du weißt nicht, wie es in meinem Innersten aussieht. Aber es interessiert Dich doch? – O gewiß! Und gern möchte ich Dir alles mitteilen, wenn es möglich wäre. Aber es ist nicht möglich, und wenn es auch kein weiteres Hindernis gäbe, als dieses, daß es uns an einem Mittel zur Mitteilung fehlt. Selbst das einzige, das wir besitzen, die Sprache taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht malen, und was sie uns gibt sind nur zerrissene Bruchstücke. Daher habe ich jedesmal eine Empfindung, wie ein Grauen, wenn ich jemandem mein Innerstes aufdecken soll; nicht eben weil es sich vor der Blöße scheut, aber weil ich ihm nicht alles zeigen kann, nicht kann, und daher fürchten muß, aus den Bruchstücken falsch verstanden zu werden. Indessen: auf diese Gefahr will ich es bei Dir wagen und Dir so gut ich kann, in zerrissenen Gedanken mitteilen, was Interesse für Dich haben könnte." (5. Februar 1801); "Ich weiß nicht, was ich Dir über mich unaussprechlichen Menschen sagen soll. – Ich wollte ich könnte mir das Herz aus dem Leibe reißen, in diesen Brief packen, und Dir zuschicken. – Dummer Gedanke!" (13. und 14. März 1803); wenn er immer wieder seine Skepsis an den Ausdrucksmöglichkeiten in verschiedenen Briefen anspricht, wenn er in einem fiktiven "Brief eines Dichters an einen Anderen" im Jahre 1811 schreibt "Mein teurer Freund! Jüngsthin, als ich dich bei der Lektüre meiner Gedichte fand, verbreitetest du dich, mit außerordentlicher Beredsamkeit, über die Form, und unter beifälligen Rückblicken über die Schule, nach der ich mich, wie du vorauszusetzen beliebst, gebildet habe; rühmtest du mir auf eine Art, die mich zu beschämen geschickt war, bald die Zweckmäßigkeit des dabei zum Grunde liegenden Metrums, bald den Rhythmus, bald den Reiz des Wohlklangs und bald die Reinheit und Richtigkeit des Ausdrucks und der Sprache überhaupt. Erlaube mir, dir zu sagen, daß dein Gemüt hier auf Vorzügen verweilt, die ihren größesten Wert dadurch bewiesen haben würden, daß du sie gar nicht bemerkt hättest. Wenn ich beim Dichten in meinen Busen fassen, meinen Gedanken ergreifen, und mit Händen, ohne weitere Zutat, in den deinigen legen könnte: so wäre, die Wahrheit zu gestehn, die ganze innere Forderung meiner Seele erfüllt. Und auch dir, Freund, dünkt mich, bliebe nichts zu wünschen übrig: dem Durstigen kommt es, als solchem, auf die Schale nicht an, sondern auf die Früchte, die man ihm darin bringt." (siehe: projekt-gutenberg.org/kleist/aufsatz/chap013.html), dann wird schon recht deutlich, weshalb er seine Charaktere nicht nur durch Sprache kommunizieren lassen kann. In der Kleists Erzählung Die Marquise von O ... wird "auf der Ebene der Darstellung der Vorgang der Vergewaltigung fast völlig ausgespart, einzig der berühmte Gedankenstrich deutet darauf hin, kann aber auch erst später in der Erzählung, wenn der Körper der Marquise auf das Geschehene hinweist, als einzig möglicher Zeitpunkt der Vergewaltigung identifiziert werden. Ebenso wird das Ereignis in der erzählten Welt für fast alle Figuren ausgeblendet - nur der Graf hat es bewusst erlebt, aber er spricht nicht darüber und die anderen fragen ihn auch nicht explizit danach. Nur der Körper der Marquise spricht darüber." (Petra Salzer, a.a.O., S.3f)
Salzer verweist auf Dirk Oschmann, der feststellt, Kleist habe ein "Modell der Körpersprache als Universalsprache" entwickelt und in Analogie zu Theorien zur Gebärdensprache werde bei Kleist "dem Körper selbst Sprachvermögen bescheinigt." (Salzer, S. 4) Inwieweit Oschmanns These, daß in Kleists Dichtung die "Entäußerung des Körpers als konkurrierendes Zeichensystem gegen die Wörter ausgespielt" (zit. nach Salzer, S.4) werde, weitere Aufmerksamkeit zukommen soll, sei einmal kritisch dahingestellt. Letztlich macht es wenig Sinn, Ganzheiten aufzutrennen und sie dann einer recht künstlichen Sezierung zu unterziehen; nicht "konkurrierend" sondern eher ergänzend wäre hier aus meiner Sicht die zutreffendere Sichtweise. Auch die von Oschmann gesehenen "Vorteile" (Salzer) des Körpers in "diesem Konkurrenzkampf" darf man sicherlich einer näheren kritischen Prüfung unterziehen: "Was die Gebärdensprache als Körpersprache in all diesen Stellungnahmen vor der verbalen Sprache auszeichnet, ist folglich nicht nur ihre Unwillkürlichkeit und Allgemeinverständlichkeit, sondern ihre außerordentliche Nähe zur Natur und damit zur Wahrheit." (Dirk Oschmann: "How to Do Words with Things. Heinrich von Kleists Sprachkonzept." In: Colloquia Germanica 36, 2003, S. 15). Es scheint mir schon sehr weit hergeholt zu sein (und eine optimistische Verabsolutierung), wenn man die Schlußfolgerung zieht, "Die Körpersprache kann also Wahrheit garantieren, weil sie nicht bewusst gesteuert wird und somit keinen Filter durchläuft." Zuzustimmen ist m.E. jedoch der Formulierung von einer "teilweise auftretenden Verlegung der Ausdruckskraft von der Sprache in den Körper" (Salzer), womit dann Dieter Heimböckel durchaus zutreffend davon sprechen kann, daß dieser Umstand "gleichsam die Rückseite seiner [Kleists, d.V.] Sprachskepsis" bildet (sofern man Gefallen an dieser Münzenassoziation findet).
Petra Salzer zeigt mit Blick auf diese Wechselwirkung (so glaube ich, wäre ein zutreffender Begriff) zusammen: " In Bezug auf Georg Braungart bemerkt er (Oschmann, d.V.), „[d]ass sich Sprachskepsis und die Hinwendung zur Körpersprache komplementär zueinander verhalten“ – ein Merkmal, das fast 100 Jahre nach Kleist auch die Literatur seiner sprachskeptischen Kollegen auszeichnete. Braungart entdeckt in der Kultur um die Jahrhundertwende ein Fülle von Erscheinungen, die – in jeweils ganz unterschiedlicher Weise – von einem großen Vertrauen in die Authentizität körperlichen Ausdrucks [...] zeugen: Ausdruckstanz, Freikörperkultur, Graphologie, Hysterie, Gebärdensprache, Charakterologie, Physiognomik in neuen Varianten. Es handelt sich also um eine nicht ungewöhnliche Reaktion, die Kleist von der untauglichen Sprache hin zur Unwillkürlichkeit des Körpers treibt. Diese Hinwendung zum Körperlichen trägt bei Kleist, wie schon erwähnt, dennoch nicht „[z]u einer substantiellen Korrektur der Rede“ bei, denn: „Ihre Eindeutigkeit ist [...] ebenso wie die des sprachlichen Zeichens erschüttert.“ Auch die weiteren Einzelheiten zu Kleists Sprachskepsis wurden von Dieter Heimböckel detailliert ausgearbeitet (...)." (Salzer, S. 4f.) Folgerichtig hat sie in ihrer Arbeit besonders auch das Spannungsfeld zwischen Körper und Sprache untersucht. Unter anderem sagt sie mit Blick auf die Vergewaltigung und Sprachlosigkeit (= hier wohl auch die von Kleist bemühte Ohnmacht): "Den Körper der Frau wollen die Männer gerne besitzen, kontrollieren. Dies gelingt ihnen aber nur dann, wenn diese ohnmächtig ist oder wenn sie es selbst tatsächlich will. Von ihrer Machtanwendung lässt sie sich nicht beeindrucken, wie der Schwan Thinka, von dem der Graf erzählt, daß sie immer auf feurigen Fluthen umhergeschwommen wäre, und er Thinka gerufen hätte, welches der Name jenes Schwans gewesen, daß er aber nicht im Stande gewesen wäre, sie an sich zu locken, indem sie ihre Freude gehabt hätte, bloß am Rudern und In-die-Brust-sich-werfen [...]. (Salzer, S. 36)
Auch läßt Kleist die Sprache bei der Klärung des tatsächlichen Vorgangs versagen; zumindest ist der Graf nicht fähig expressis verbis seine Tat zu gestehen, er bewältigt das nicht mit den Mitteln der Sprache, sondern signalisiert seine Täterschaft durch "sein körperliches Erscheinen und sein demütiges Verhalten" (Salzer)
Der Kleist-Kenner Günter Blöcker (Heinrich von Kleist oder Das absolute Ich, Fischer Frankfurt a. Main, Oktober 1977) spricht mit Blick auf Kleist zugleich von einer "Sprachverleugnung wie einer einzigartigen Sprachkompetenz", verweist auf Kleists "sprachloses Sagen", womit genau der gewählte Umgang mit der Interpunktion (immer wieder findet man bei ihm: den Gedankenstrich, die Auslassungszeichen, wenn es darum geht, "Unaussprechliches" zu kommunizieren), körperliche Äußerungen, eben auch: Schweigen, natürlich Gestik, Mimik, Körperhaltung, etc. angesprochen ist. Kleist will, wie es in Familie Schroffenstein heißt, alles erklären, alles, in einer "Göttersprache". "Eben das ist es, was Kleist von der Sprache des Dichters erwartet. Sie soll Zeugnis ablegen vom Vor-Sprachlichen, vom Grund der Dinge, von den Bewegungen des Seins." (Blöcker, S. 184 ff.) Blöcker: Sprache ist ihm also nichts anderes - und dieses Wort fällt tatsächlich - als ein notwendiges Übel: "Ein wahrer, obschon natürlicher und notwendiger Übelstand; und die Kunst kann, in bezug auf sie, auf nichts gehen, als sie möglichst verschwinden zu machen." (S. 187) Wir begegnen hier also doch den zwei Seiten ein- und derselben Medaille ...
... wird fortgesetzt ...
In einem Brief an Ulrike von Kleist dürfte der Dichter wohl eine zwar sehr kursive, gleichwohl auch sehr zutreffende Beschreibung
seines Selbst gegeben haben:
"Was ich aber für einen Lebensweg einschlagen werde –? Noch weiß ich es nicht. Nach einem andern Amte möchte ich mich dann schwerlich umsehen. Unaufhörliches Fortschreiten in meiner Bildung, Unabhängigkeit und häusliche Freuden, das ist es, was ich unerläßlich zu meinem Glücke bedarf. Das würde mir kein Amt geben, und daher will ich es mir auf irgend einem andern Wege erwerben und sollte ich mich auch mit Gewalt von allen Vorurteilen losreißen müssen, die mich binden."
(Kleist an seine Schwester Ulrike am 25. November 1900 aus Berlin)
Die Arbeit über Heinrich von Kleist ist hiermit noch nicht abgeschlossen; sie wird fortgeführt werden ...
Nein, hier ist nicht "Thinka" zu sehen, hier ist nichts Fiktives, hier ist die Realität einer Schwanenfamilie im Frühjahr 2022
An dieser Stelle, diese Seite abrundend, zwei Gedichte, die durchaus auch aus der Kleistschen Gedanken- und Empfindungswelt entstanden sein könnten. Sind es aber nicht ...
Die Ruh' ist wohl das Beste,
Von allem Glück der Welt,
Mit jedem Wiegenfeste
Wird neue Lust vergällt,
Die Rose welkt in Schauern,
Die uns der Frühling giebt;
Wer haßt, ist zu bedauern,
Und mehr noch fast, wer liebt.
Friedrich Wilhelm Waiblinger
(1804 - 1830)
Dieses Gedicht von Waiblinger hat Theodor Fontane in seinem Roman »Unwiederbringlich« am Schluß im (fiktiven) Brief der Julie von Dobschütz an Generalsuperintendent Schwarzkoppen verwendet, dabei jedoch die 3. Zeile mit "Was bleibt vom Erdenfeste", die 4. Zeile mit "Was bleibt uns unvergällt?" und die 7. Zeile mit "gibt" statt "giebt" abgewandelt.
Hier ein Gedicht Theodor Fontanes, das er nach einer englischen Vorgabe (Volksweise) geschrieben hat.
(Leider ist es mir bislang trotz eifriger Bemühungen nicht gelungen, das Original auch nur in Teilen ausfindig zu machen, auch der Verfasser bleibt unbekannt. Fontane hat ihn ebenfalls nicht genannt.)
Denkst du verschwundener Tage, Marie
"Denkst du verschwundener Tage, Marie,
Wenn du starrst ins Feuer bei Nacht?
Wünschst du die hellen Tage zurück,
Wo du selbst wie die Sonne gelacht?"
"Ich denk' der verschwundenen Tage, Johann,
Und denk' an all ihr Glück,
Doch der sonnigste Tag, der über mich kam,
Ich wünsch' ihn nicht zurück."
"Denkst du an gestorbenes Hoffen, Marie,
Wenn du starrst ins Feuer bei Nacht?
Der Tau, der auf dein Hoffen fiel,
Hat dich um die Ernte gebracht."
"Ich denk' an gestorbenes Hoffen, Johann,
Aber tu's in stillem Sinn,
Es starb, wie eine Rose stirbt, -
Und was hin ist, ist hin."
"Denkst du gestorbener Freunde, Marie,
Wenn du starrst ins Feuer bei Nacht?
Wünschst du sie zurück an den einsamen Herd,
Den sie einst dir so heimisch gemacht?"
"Ich denk' der gestorbenen Freunde, Johann,
Sie sind allezeit mein Glück,
Doch, die mir die liebsten gewesen sind,
Ich wünsche sie nicht zurück."
Theodor Fontane (1819 - 1898)
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